Über Mondscheinfantasien

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Meine Schritte hallen auf den Pflastersteinen wider. Es ist Winter und der Abend kehrt mit leichtem Nebel in die Straßen ein. Die mittelalterlichen Häuser rechts und links von meinem Weg erschaffen eine kulissenreiche Bühne. Ich bin getrieben von einem Gedanken. Kann ihn jedoch schwerlich fassen und begegne mir in unzähligen Gassen auf verschiedene Weise. In Nebelschwaden erkenne ich Geschichten. Klänge, die zu mir durchdringen und hinter mir im Nichts verschwinden. „Wer war ich?“ 

 

Vielmehr, wer bin ich? Dieser Gedanke vertieft sich in meinem Unterbewusstsein wie in frischer Erde und erwartet kaum sein Ersprießen. Bald schon bricht die Knospe einer Entfaltung die Dunkelheit seines Mutterbodens und drängt in die Helligkeit meiner bewussten Beobachtung. Gelegentlich reißen mich die Gestalten auf meinem Weg aus der faszinierten Betrachtung, doch gleichzeitig werfen sie neue Fragen auf mich. Wer waren sie? 

 

Ich blicke neben mich. Etwas an dem Gebäude zu meiner Linken weckt meine Aufmerksamkeit. Wie aus dem Nichts zieht es mich auf die gemauerte Wand. Ich untersuche die Oberfläche mit meinen Augen und Fingern. Kann jedoch nichts erkennen. Ich probiere es mit lauschen und lege mein Ohr an. Der Stein ist kalt. Die Oberfläche rau. Mir ist, als berühre ich die Vergangenheit. Stelle mir vor welches die Geräusche waren, die hier über die Jahrhunderte gegenhallten. Doch außer Stille höre ich nichts. 

 

Mit einem Satz löse ich mich von der Wand und eile weiter. Es ist nicht, dass ich in Hektik bin. Vielmehr fühle ich eine Energie, die sich auslaufen muss. Ein Auf und Ab in den eigenen vier Wänden und ein Ausbrechen im Hinterstübchen. Die Dunkelheit schleicht unbemerkt und doch zuverlässig wie schwarzes Wasser in die Stadt. Vermischt die Geräusche zu chaotischen Kulissen. In der Ferne höre ich Stimmen. Ein Lachen klingt irgendwo von einem Fenster hinab in die Straße. Paart sich mit dem orientalischen Klang eines Autoradios und verhallt im Dumpf der Nebelschwaden. 

 

Es fröstelt mich. Seltsame Bilder huschen durch meinen Geist. Bilder von vergangenen Generationen. Die Straßen voller Gerüche, Gespräche, Marktschreie. Das Mittelalter. Kaum weniger als einen Wimpernschlag in der Geschichte der Erde vergangen und doch so fern. Aber war es das wirklich? Mein Schritte wurden langsamer. Zwischenzeitlich gelange ich durch enge Gassen an einen Platz im Schatten eines monumental gotischen Gotteshauses. Das Licht kräuselt sich über die Steinverzierungen an den steinernen Zinnen, die im Dunkeln wie Dornbüsche aussehen. Unter diesen Schatten scheint sich der Boden zu bewegen. 

 

Wie Wind in einem Rosenbusch‘, geht es mir spontan durch den Kopf. Ich halte inne. Mein Blick verharrt auf diesem Bild. Ich kann mich des Eindrucks nicht frei machen und lasse mich von den Formen am Boden hypnotisieren. Wieder erinnere ich mich an die Vergangenheit. Frauenverbrennung ein Stichwort. Mein Blick löst sich und betrachtet den Kirchturm. "Auch du, was könntest du mir über all das berichten…“, murmle ich, mehr zu mir selbst sprechend als wirklich zu dem Gemäuer.

 

Kopfschütteln vertreibt weitere Gedanken. Es war nicht lange her, da töteten unsere Vorfahren im Namen von Gott. Egal wer, alle waren sie ganz groß im Steine werfen. Keiner ohne Sünde. Und heute? Längst vergessen in zu viel Lärm. Wenn die Geschichte nicht so lehrreich wäre… dann würde ich auch vergessen können. Doch sehe ich es zu häufig, das mich erinnert an etwas, das mir bekannt vorkommt. Heute herrscht so viel Lärm. Die totale Verwirrung. Verleumdungen verbreiten sich wie Hexenfeuer und nachgerichtete Meldungen wie die Pest. Informationen infizieren den Rest. 

 

Doch ich erinnere auch: das Ende des Mittelalters war der Beginn der Renaissance. Jene begann in dem Moment, als die Menschen die Geschichte zurück in die Hand nahmen, die Klassiker aus der Antike lasen und verstanden, dass sie mehr als das waren, was ihnen beigebracht wurde. Denn, du bist nicht einfach ein Produkt deiner Zeit. Du bist vielmehr als das. 

 

Aber wer war ich? 

 

Plötzlich reißt mich eine Berührung aus meinen Gedanken. Zärtliche Finger liegen auf meiner rechten Schulter und geben mir zu verstehen, dass ich mich drehen soll. Ich beuge mich. Drehe mich langsam. Fühle keine Angst. Es gibt ihn, jenen furchtlosen Zustand. Jener, der so verstaunt über die Wirklichkeit ist, dass ihn nichts mehr erschreckt. 

 

Mein Blick trifft auf einen zierlichen Körper. Eingehüllt in einen langen Mantel. Den Kopf von einer Kapuze geschützt. Doch im weißlichen Licht des aufbegehrenden Mondes sehe ich eine kleine Nase schimmern. Suchend taste ich die Gestalt mit meinen Augen ab. Mein Geist leert sich. Alle Vermutungen verstummen in der Unmöglichkeit der Situation. Es gab keinen einzigen Grund, warum ich gerade hier, gerade jetzt einer Begegnung zum Opfer falle.

 

„Komm!“ 

 

Ihre Stimme verzauberte mich vom ersten Klang. Dringt in mein Bewusstsein und versinkt mich in Trance. Ich versuche in ihrem Gesicht eine Sicherheit zu erkennen und gebe nach ohne mich zu wehren. Sanft zieht sie mich zu sich. Bedeutet mir ihr zu folgen. Ich folge. Verliere den Weg aus den Augen. Bin in einem Bann. Sie geht voran. Schwebt vielmehr über den Boden, über welchen ich vergleichsweise stolpere. Biegt ab, führt mich in unbekannte Wege und bald verliere ich die Orientierung. 

 

An einem Kanal kommen wir zum Stehen. Vorbei an kleinen Brücken und nun im Schatten von Gemäuern. Sie dreht sich um. Steht einen Armlänge von mir entfernt und greift meine linke Hand. Legt sie sich auf ihr Herz. Ich wehre mich nicht. Im nächsten Moment greift sie sich an die Kapuze. Hält einen kurzen Moment inne, so als überlege sie. Dann streift sie sie langsam nach hinten. 

 

Ich spüre wie ihr Herz schneller zu schlagen beginnt. Die Zeit verlangsamt sich. Als pulsiere ihr Herzschlag in meinen Körper, beginnt nun auch mein Herz schneller zu werden. Ich bin verwirrt. Unschlüssig darüber, den Sinn dieses Momentes jemals zu verstehen. Als die Kapuze fällt, stoppt ihr Puls. 

 

Ebenso bleibt der meine stehen und die Zeit hält an. Ich sehe in ein Gesicht. Unmöglich die Schönheit dessen zu beschreiben, was ich sehe. Als wollte mir Gott höchstpersönlich seine Existenz beweisen. Augen mit der Tiefe eines Universums funkeln mich mit dem Glitzern zahlloser Sterne an. Ihre Haut schimmert wie goldene Seide. In ihrer ganzen Präsenz wiegt etwas Göttliches, das mich einhüllt und mich schwach macht. Als umgebe sie ein heiliger Schein, der mich nur noch in ihrer Anwesenheit existieren lässt. 

 

Ein unendlicher Moment. Sie zieht mich zu sich und küsst mich. Ein gemeinsamer Herzschlag katapultiert mich in eine andere Welt. Die Zeit krümmt den Raum und verschwindet in einem Strudel aus vorbeiziehenden Bilder. Ich sehe mich selbst in anderer Kleidung zu einer anderen Zeit, doch mit ihr in meinen Armen. Im Anblick eines unglaublichen Sonnenuntergangs. Doch bevor ich verstehen kann, verändert sich die Kulisse. Sie steht da, glücklich lachend. Mit mir daneben. Dann eine regnerische Nacht. Ich selbst vor einem Grab kniend. 

 

Wieder verändert sich das Bild. Wieder sehe ich mich, diesmal auf einem Schlachtfeld. An dem Schwert in meinem Bauch sterbend. Sie in einem Zimmer, sich nach mir sehnend. Der Strudel nimmt an Geschwindigkeit zu. Die Geschichten überschlagen sich. Wir in der Antike, lachend. Schreiend. Zerbrechend. Kämpfend. Liebend. Mich beginnt es zu schwindeln, ich verliere mich in all diesen Szenen. Der zweite Herzschlag fängt mich ein und wirft mich ein weiteres Mal in die Zeitlosigkeit. 

 

Es wird still. Ich schwebe. Als sei ich unter Wasser, wiege ich mich sanft in einer unendlichen Dunkelheit. Sehe ein Licht, das auf mich zukommt. Mich einholt und sich an mich schmiegt. Ein Körper. Es ist sie, die sich weich wie Kaschmir in meine Arme windet. Ich fühle ihre Wärme. Sie berührt mich im Innersten und erfüllt mich wie warmer goldener Honig. Schlägt in mir Wurzeln. Schwerelos leuchten unsere Körper im Schein ihrer eigenen Lebendigkeit.  

 

Sie legt ihre Hand an meine Brust. Vertreibt alle Schatten aus meinem Herz. 

 

„Du willst, wissen wer du bist. Die Wahrheit ist, du bist ein Wunder. Ein Wesen, das aus Wunsch geboren wurde und sich seiner Bestimmung nach selbst erfüllt. Du bist mehr als nur dein Name und deine Geschichte. Du bist jeder Namen, jede Geschichte. Du bist schon immer und du wirst immer sein. Die lebendige Frucht eines göttlichen Baumes. Die Erzählung eines schöpferischen Atems.“

 

Ihre Stimme klingt wie Nektar in meinem Innern. Glück quillt in meiner Brust, verteilt sich in unsere Körper. Ich spüre, wie ich voll davon bin, wie ich überlaufe und ich mich endlich frei fühle. 

 

„Wer bist du?“, dringt es aus meinem Innern. 

 

Ich spüre ihr Lächeln. Sie umschlingt mich noch fester. Atmet meinen Atem. „Ich bin die Energie in all deinen Geschichten. Ich bin die Liebe, die dich durch all deine Leben führt. Der Schmerz, für den du bereit bist zu kämpfen. Das Feuer in deiner Brust. Ich bin deine Liebe. Und ich bin an deiner Seite seit Beginn der Zeit. Ich bin, weil du Liebe bist.“ 

 

Ein Kichern lässt all meine Bedenken fallen. Wie im Traum akzeptiere ich alles, was passiert und lasse wirken, was sie in mir befreit. Fühle mich angenommen und vollkommen. Ich bin voller Glück und Reichtum. Und endlich angekommen. Ich atme. 

 

Der aufkommende Hauch zieht mich selbst langsam aus dem Bild. Als betrachte ich uns von außen, sehe unser beider Lichtkörper eng umschlungen kleiner werden. Verliere allmählich die Umrisse und erkenne bald nur noch den Schein wie von einer Kerze, der bis an die Grenze des Unendlichen reicht. Sehe, wie wir bald nur mehr ein strahlender Punkt am dunklen Firmament sind. Auf ewig Eins. 

 

Als ich mich in meinem Körper wieder finde, ist sie verschwunden. Doch spüre ich ihren Kuss auf meinen Lippen, fühle die Feuchtigkeit unter meinen Augen. Ihr schlagendes Herz in meiner linken Hand und ihre Hand auf meiner Brust. Selbst die Wärme ihres Körper, die sich immer noch an mich zu schmiegen scheint. 

 

Verträumt verlasse ich die Schatten meiner Umgebung. Schwebe über kleine Brücken im Mondschein. Vorbei an mittelalterlichen Gemäuern. Den Kopf voller Geschichten aus längst vergangenen Tagen. Ich atme. Im Wasser zu meinen Füßen sehe ich die Spiegelung des Sternenhimmels. Der Nebel hatte sich verflüchtigt. Zumindest für diesen einen Moment. Ich blicke ins Wasser, sehe ihr Gesicht auf der Oberfläche, wie es zu mir spricht. 

 

„Ich bin immer an deiner Seite, ich bin deine unendliche Liebe“, findet mich ihre Stimme in meinem Geist. Ich wende meinen Blick ab und richte ihn nach oben. Blicke in den dunklen Nachthimmel und erkenne einen strahlenden Stern. Er funkelt mich an, lockt mich genauer hinzusehen. Allmählich sehe ich Konturen - und dann sie, in meinen Armen. Ein strahlender Lichtkörper. Auf ewig Eins. 

 

Da waren wir. Wunder am Firmament. „Danke“, flüstere ich voller Liebe. Langsam gehe ich weiter. Lasse mich noch etwas von den Strömungen der Nacht treiben. Ein Lächeln ziert mein Gesicht. Vielleicht war es gar nicht so wichtig, wer wir waren. Denn offenbar waren wir viele. Vielleicht ist es vielmehr an der Zeit, eine andere Frage zu stellen. 

Bei aller Liebe, wer könnten wir sein? 

 

Luca Merkle