Über das Wesen der Sexualität

Quelle: https://www.alexgrey.com/art/paintings/soul/alex_grey_love_is_a_cosmic_force

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Ich habe nie verstanden, was Sexualität ist. Zwar nannte sich die Welt, in die ich geworfen wurde, aufgeklärt, doch mal ehrlich, für das, was die Triebfeder unserer schlimmsten Verwerfungen ist, haben wir selten gute Erklärungen. Angefangen bei teuflischer Lust bis hin zu sex sell's. Noch bevor wir annähernd begriffen haben, was wir hierbei eigentlich machen, haben wir einen Preis an die Liebe gehängt und das Thema beendet

 

Viele Jahre habe ich mich geschämt. Einfach weil ich ein Mann bin. Großgeworden in einer Welt in der Männer das gekennzeichnete Übel der Gesellschaft sind, fällt es schwer, stolz auf das zu sein, was einen als männlich auszeichnet. Ist ohnehin nur schwanzgesteuerte Materie. Sei’s drum. Ich nehme es der Welt nicht übel, dass sie ist, wie sie ist. Doch heute weiß ich, ich habe keine Ahnung, was Sexualität ist, ebenso wenig, was es heißt, männlich zu sein. 

 

Darf ich nun weinen oder nicht? Muss ich hart wie mein Brett vor dem Kopf sein, oder darf ich auch sensibel einfühlen? Muss ich ständig anpacken oder eher zärtlich streicheln? Reinprügeln, oder mich einfließen lassen? 

 

Wie dem auch sei, heute bin ich froh, unentschlossen zu sein und nicht zu wissen, was Sache ist. Das macht mich spontan und erfinderisch, kreativ und künstlerisch. Mann, Frau, ohnehin nur leere Begriffe, mit denen die meisten genau so ahnungslos um sich werfen, wie mit Vorurteilen. Ich bin in erster Linie Mensch und nicht einmal da bin ich mir sicher, was das ist. 

 

Aber auch ich habe Erfahrungen gemacht. Mein eigenes Bild von dem, was ich Sexualität nenne, und ich erkenne dabei immer wieder andere Perspektiven als die Aufklärung mir weis machen will. Denn Fortpflanzung hin oder her, ist nicht gerade der Kuss jenes Erleben, bei dem wir sagen würden: „Es ist eben nicht lediglich das Berühren zweier physischer Körper, sondern die Begeisterung die damit einhergeht und zweifelsfrei auf dasjenige verweist, was ganz eindeutig nach jenem existiert, das hinter dem Diesseitigen liegt. Eben jenes Wesen aus dem Jenseitigen, das Geist braucht, um sich zu begeistern und danach strebt die Lippen des anderen zu treffen.“

 

Wer nun entgegnet, er würde nur aus Fortpflanzung küssen, der küsste keinen echten Kuss. Gleichsam verhält es sich mit der Vereinigung zweier menschlicher Wesen. Denn der Mensch ist nun mal mehr als nur Physik und Kausalität. Er ist Wesen, genau wie alle Energie um ihn herum. 

 

Denn während man im Porno nur dasjenige sieht, was die Physik und Kausalität macht, so ist es doch von anderer Qualität, wenn die Welt um einen herum verschwindet, während man sich ganz im anderen verliert. Die beiden Perspektiven könnten unterschiedlicher nicht sein und dennoch hält der Zeitgeist daran fest. Nun ich schreibe nicht, um hierauf Bezug zu nehmen. Der Zeitgeist und ich liegen nicht selten weit auseinander. Zu mühselig, sich immer wieder damit zu beschäftigen. 

 

Worauf ich jedoch Bezug nehmen will, ist das, was ich ergänzen will. Dasjenige, das niemand abstreiten würde, der über Gefühle und Empfindungen, Wünsche und Begierden verfügt; kurz, jeder, der nicht nur denkt, sondern auch fühlt und dabei nicht selten in Konflikt mit ebenjenen beiden, oft spiegelverkehrten Perspektiven kommt. 

 

Sexualität ist die höchste Form der Kommunikation. Die intimste und die sensibelste. Es ist eine Kunst und bedarf deutlich mehr als nur einer scharfen Zunge und Fingerspitzengefühl. Sie bedient allein im intimsten Bereich über 60.000 Nerven, die verstanden werden wollen und nicht selten missverständliche Botschaften senden. Es ist wie der Tanz zweier Wasserwesen, die sich tröpfchenweise beeinflussen. Ein Cocktail aus Hormonen, Energien, Sehnsüchten, Begierden, Ängsten und Zweifeln. Ein ganzes Universum an unterschiedlichen Strömungen und ganz neuen Ufern. Denn schließlich prallen hier Welten aufeinander. Universen voller Entstehungsgeschichte, die einen bis zu dieser Kollision angetrieben haben und dann der sehnsüchtige Moment, in dem es geschieht. 

 

Kein Wunder also, warum hier immer wieder Missverständnisse auftreten. Zumal die Aufklärung den Herren der Schöpfung das Recht zur Sensibilität abgesprochen hat. Daher bleiben die Themen meistens nur bei den ersten 10.000 Nerven hängen und eröffnen somit höchstens der Verhütungsindustrie eine gewisse Befriedung

 

Doch Sexualität hängt viel damit zusammen, wie ich zu mir stehe. Zu mir als Individuum und zu mir als Mensch. Verurteile ich mich selbst in die Schublade sowie die Rolle, die man mir zuruft, dann wachse ich nicht darüber hinaus. Gleichsam wie ich alles verneine, was ich sonst noch sein könnte. Zum Beispiel wirklich befriedigt. 

 

Ich werfe also meinen Blick auf das, was übrig bleibt. Das Nackte, das,  was noch da ist, wenn ich sonst alle verdeckende Bezeichnungen weg rationalisiere. Das, was als Gefühl, als Wahrnehmung am Anfang jeder Sprachlosigkeit beginnt. Bei den Kräften, die mich geschaffen haben, den Energien, die nicht nur mein Ich, sondern gleichsam das ganze Universum erschaffen haben. Ja richtig, ich, genau wie jeder andere, bin durch dieselben Kräfte entstanden wie der Rest des Universums, in dem wir leben. Und eben jene Kräfte sind es, die Sexualität und Leben kreieren. Ebenso wie mein individuelles Ich und Dich. 

 

Nun stell dir vor, während die Kräfte des Universums in jedem von uns wirken, treffen zwei davon aufeinander. Komplexe Angelegenheit. Und doch ganz einfach, wenn man sich von seinem Gefühl verführen lassen kann. Den weichen Windungen der Oberfläche folgt, aufmerksam auf die Strömungen achtet und sich im richtigen Moment einfach mitreißen lässt. Doch bevor die eine Welt in die andere dringt, gebiert zunächst die Höflichkeit, einen gewissen Raum der Vorstellung. Ein Kennenlernen des anderen Wesens. Eine zärtliche Begrüßung, gefolgt von strategisch harten Impulsen um an den Kern des eigenen Bestrebens zu gelangen. 

 

Denn erst aus der Sicherheit heraus, selbst zu wollen, erlaubt man der vor sich öffnenden Welt das gegenseitige Vertrauen, um sich zu vereinen. Nichts anderes ist Sexualität. Die Begegnung zweier galaktischer Energien mit dem Potenzial eines übersinnlichen Höhepunktes. Und selbstredend allen Kommunikationsschwierigkeiten bis dahin. 

 

Wer das missachtet, der missachtet auch seine eigene Sexualität. Zum Akt bedarf es immer zwei, genau wie bei jedem anderen Gespräch. Und Unhöflichkeit rächt sich auf beiden Seiten. Denn diese Vereinigung zweier Lebenswelten zu einem unendlichen Moment gelingt nur durch bedingungslose Liebe

 

Und dann, dann ist Sexualität die schönste Nebensache der Welt. Die Gesprächsform, in welcher Worte an Bedeutung verlieren und die eigene Existenz nur noch im Erfühlen des anderen liegt. Nur dann entsteht etwas wirklich Neues, etwas nie da Gewesenes, etwas, das eine Flut an Hormonen freischaltet und das Bewusstsein in eine Ebene katapultiert, in der Zeit und Raum verschwinden, genau wie der Rest deiner bisherigen Welt. 

 

Was fehlt, ist Verständnis. Verständnis für das eigene Unverständnis und Vertrauen auf die intimsten Wünsche. Die Akzeptanz der Planlosigkeit des anderen ist ein erster Schritt. Denn mal im Ernst, das ganze ist so individuell, dass der andere zwangsläufig keinen Plan davon hat, was er da macht. Wer denkt schon beim Sex an die Entstehung von Universen und was es hierbei alles zu beachten gilt. Vielmehr braucht es Vertrauen darauf, dem anderen mehr von sich zu zeigen, als man selbst über sich weiß.

 

Denn während dieses Gespräches werden Informationen ausgetauscht. Und nicht nur irgendwelche, sondern die elementarsten und bestgehütesten deiner DNA. Warum sollte man diese in die Welt verschießen? Schließlich kannst du nie wissen, was ein anderer damit macht. Du solltest also wissen, mit wem du dieses Gespräch führst und warum. 

 

Stell dir den Menschen als Wasserwesen vor. Fast wie eine der 60 Billionen Zellen aus denen er besteht. In seinem Innern trägt er seine intimsten Geheimnisse. Seine Ängste und Sorgen. Seine Wünsche und Träume. Seine Geschichte, sein ganzes Leben, sein wahres Wesen. Geschützt ist dieses Wissen von der Membran, die es umgibt. Der Haut, den Kleidern, der Masken, die du trägst. Sex ist einer der wunderschönsten Momente im Leben, doch kann es blitzschnell zum Gegenteil werden, wenn ein plumper Gesprächspartner kommt und sich gewaltsam in die Quelle deines Seins zwängt. Zwar verrät er hierbei genau so viel über sich selbst, wie er über dich erfährt, doch oft weiß er nichts von seiner Taktlosigkeit, weil keiner es ihm sagt und ihr beide durch die Aufklärung, die Pornoindustrie und einer Vielzahl enttäuschter Erfahrungen, aufgehört habt, Lust darauf zu empfinden. 

 

Solange, bis ein anderer kommt. Ein anderer, der zwar im ersten Moment einen neuen Eindruck hinterlässt, jedoch kurze Zeit später erneut an der eigenen Einbildung scheitert. 

 

Was es braucht, ist Geduld. Kein Gespräch sprudelt gleich vom ersten Moment an. Erst einmal gleitet das Auge an den Formen des anderen. Die Nase nimmt Spuren von Erregung war, die Ohren vernehmen das stetige Steigen des Pulses. Die Stimme beginnt zu flimmern. Der Moment der Erregung beginnt von alleine, wenn er gelassen wird. Gefolgt von vorsichtigen Annäherungen und ersten, eindeutigen Zeichen. In den Augen beginnt ein Geist zu erwachen. Energetisch funkelt es aus dem Dunkeln der Pupille. Trifft den Blick des Gegenübers und entfacht ein Feuer der Leidenschaft. Ist dieses entzündet, verbrennt es die Hemmungen. Befreit die Blockaden und mobilisiert Energie. 

 

Der Puls wird schneller, die Aufregung steigt. Die Säfte beginnen zu zirkulieren und erschaffen eine Wolke aus Teilchen der Lust, welche das rationale Denken vernebeln. Und wie sich die Energien im Nebel der Galaxien allmählich näher kommen, wächst die Spannung. Zwischen beiden entsteht ein Potenzial. Ein hochelektrisches, feinstoffliches, nicht greifbares.

 

Und dann, wenn der Raum sich öffnen konnte, verschwindet sie, die Welt um einen herum. Das ganze Sein stimmt sich auf den anderen ein. Nichts ist mehr wichtig, nichts existiert mehr. Nichts, außer dem Gefühl zwischen beiden. Ein zerbrechliches, zartes Gefühl, das wie ein neuer Stern inmitten des Dunstkreises aus Sternenstaub geboren wird. Und während sich beide Individuen allmählich im Strudel verlieren, wird das gerade Entstehende stärker. Als würde die Energie des eigenen Egos teil eines gemeinsamen Wesens sein, das nur inmitten zweier sich verlierender erwachsen kann. 

 

Der ganze Körper wird zum Auge, zur Wahrnehmung, zur Fingerspitze. In einem unendlich komplexen Vorgang fließt er spielerisch in den des anderen ein, vermischt sich und erzeugt noch mehr Energie durch Reibung. Die Laute, die sich hierbei lösen, sind keinem Worte ähnlich, dafür aber der Grundausdruck unserer Existenz, Lust. Die Flüssigkeiten fließen zusammen und bilden einen Film, der die Energie noch schneller leitet. 

 

Irgendwann, nach unzähligen Drehungen um das gemeinsame Sein und der Grundeigenschaft der Zentrifugalkraft, kontrahiert der Körper. Krampft alle noch zur Verfügung stehende Energie in eine letzte Expression seines Wesens. Und dann lässt er los und kommt zum Höhepunkt, während der gerade entstandene Stern implodiert. 

 

Im Moment höchster Erregung bist du Gott am nächsten, da, wo du frei bist zu sein, was du wirklich bist. 

 

Energie.