Schichtarbeit

Man sagt, Persönlichkeitsentwicklung braucht Zeit. Zeit, die irgendwo herkommen muss, denn der Tag hat schließlich nur 24 Stunden.

Manchmal sieht der Mensch den Baum vor lauter Wald nicht, gerade dann, wenn Landschaft nur noch eine Fläche zum Überqueren darstellt, als Zwischenepisode von Start und Ziel. Sicher, Persönlichkeitsentwicklung braucht Zeit, aber es ist nicht so, dass Zeit fehlen würde. Die Schichtarbeit ist da ein willkommenes Beispiel und liefert optimale Bedingungen, um über sich selbst nachzudenken. Sicher, die Nachtschicht ist etwas ungesundes und widerspricht jeglichem Biorhythmus, aber wenn ich Nachts arbeite....

 

Die Stimme der Normalen

Ich hatte neulich ein interessantes Gespräch. Ich unterhielt mich mit einem Bekannten, den ich schon seit längerem kannte und von dem ich wusste, das er in Schichtarbeit lebte. Während unseres Gesprächs gerieten wir zu den üblichen Floskeln, bis er mir auf meine Frage nach seinem restlichen Tagesplan antwortete: Er wüsste es auch nicht. Dahingehend, dass er heute Nachtschicht habe, ist es ohnehin schier unmöglich, irgendetwas Sinnvolles vor der Arbeit zu machen. Lediglich trainieren, Einkaufen und ein kleines Schläfchen vor Schichtbeginn, finden da einigermaßen Zeit.

Ich stimme ihm abwesend zu, denn er hatte mich auf einen Gedanken gebracht: Wieso fällt es uns so schwer, mit uns allein zu sein?

Sicher, die einen halten die Einsamkeit besser aus als die anderen, jedoch müssen selbst diese zugeben, sich in der Gemeinschaft wohler zu fühlen. Ich rede in diesem Zusammenhang nicht von Mönchen und Eremiten, sondern von ganz normalen Menschen, wie sie jeder im Umfeld hat und sicher in vielerlei Hinsicht auch von uns selbst. Einige werden jetzt sagen, naja das ist eben unsere evolutionäre Geschichte. Das ist in unserer DNA gespeichert, weil die Gruppe einen größeren Überlebensvorteil lieferte usw. Und damit haben sie höchstwahrscheinlich auch recht. Dennoch sollten wir uns in einem Zeitalter, in dem wir mit genoptimierten Designer-Babys herumexperimentieren, die Frage stellen, wieso wir dennoch so ein riesiges Problem damit haben, mit uns selbst allein zu sein.

Und es scheint, als sei die eigentliche Antwort auf diese Frage viel trivialer als die DNA-Variante.

Der Mensch scheut schlicht die Auseinandersetzung mit sich selbst, seiner Identität, seinem Charakter und alles was dazu gehört. Das würde nämlich bedeuten, irgendetwas an einem könnte nicht optimal laufen und man wäre selbst dafür verantwortlich. Es geht nicht darum, jeder hielte sich für perfekt. Ganz im Gegenteil, die allermeisten wissen, dass sie nicht perfekt sind, doch solange ich mich mit irgendeinem billigen Schwachsinn beschäftige, muss ich mich nicht damit auseinandersetzen. Wer allein mit sich selbst ist, kommt früher oder später in die Situation, über sich selbst nachzudenken. Je länger dieser Zustand wirkt, desto mehr werden einem die Kompromisse bewusst, die man in Bezug auf Job, Beziehung, persönliche Entwicklung und ganz allgemein mit seiner derzeitigen Position in diesem konstitutiven Begriff namens Leben hat.