Über Dich, die Anderen und Empathie

„Siehst du den Vogel auf dem Ast da hinten?“, frage ich sie, während ich meinen Arm in Richtung des Baumes strecke. Ihr Blick folgt meiner Geste entlang vom Finger bis zu dem gemeinten Blätterdach. 

Wow, ist der schön! Und der Schnabel erst“, flüstert sie entzückt. Wir sitzen auf der Terrasse unserer Dschungelbehausung. Irgendwo zwischen Himmel und Erde. Vor uns breitet Mutter Natur ihre ganze Vielfalt aus. Zwischen uns und dem Meer liegen gute acht Kilometer saftiges Urwaldgrün. Gefolgt von hell- bis tiefblauem Ozean. Dort, wo der Horizont sein müsste, befindet sich Dunst und verwischt die Grenze zwischen Luft und Wasser. Wolken schwimmen wie weiße Milcheisberge durch ein Meer aus blauer Atmosphäre. Ein Bild für Götter ist das einzige, was diesen Anblick vielleicht annähernd beschreibt. Ansonsten scheitert jede Beschreibung schon an der Gedankenlosigkeit in dieser surrealen Situation. 

 

Die Geräuschkulisse hüllt uns allmählich immer tiefer ein und webt uns Stück für Stück weiter in ihr Muster. Eingebettet in dieser Szene fühle ich Gelassenheit, wobei der Begriff Fallengelassenheit viel besser beschreiben würde, was ich meine. 

 

„Jeder sollte so eine Erfahrung machen. Es zwingt einen förmlich zu akzeptieren, dass wir Teil des Ganzen sind“, murmle ich in meinen Bart. 

Zustimmend, aber irgendwie abwesend, nickt sie langsam. 

 

„Das Ego ist dafür verantwortlich, dass wir uns ständig für zu wichtig nehmen! Das Ego klammert sich an materiellen Besitz genau wie an veraltete Denkweisen und verteidigt diese beschränkten Überzeugungen wie ein kleines Kind, das nicht akzeptieren will, dass es bei Mensch-ärgere-dich-nicht verloren hat“, fahre ich fort, während ich versuche ihrem Blick die dahinterliegenden Gedanken zu entlocken. Doch sie hüllt sich weiter in Schweigen. Vielleicht ist jetzt nicht die richtige Zeit um zu sprechen, denke ich und verstumme. 

 

Ich richte meinen Blick wieder nach vorne und verharre an einer vorbeiziehenden Wolke. Sie erinnert mich an ein Gesicht, kein bestimmtes, wobei es praktisch jedes sein könnte. Dabei wirkt es freundlich und ich beschließe es als Zeichen zu deuten, die Klappe zu halten. 

Plötzlich reißt mich ihre Stimme aus meinen Wolken. 

 

„Stell dir vor außer uns gibt es keine Menschen mehr“, flüstert sie.

 

Ich schaue mich um und bemerke, dass mir dies an diesem Ort hier nicht allzu schwer fällt. Schließlich sind weit und breit keine Menschen zu sehen. 

 

„In Ordnung“, sage ich. 

 

„Stell dir vor, alle Menschen sind deswegen nicht mehr da, weil du gerade in einem Traum bist. Wie ein Klartraum, bei dem du weißt, dass du träumst und du alles machen kannst, was du willst und was du dir vorstellen kannst.“ 

 

Auch das fällt mir momentan nicht schwer. Alles, was ich mir vorstellen kann, befindet sich vor meinen Augen. Für nichts anderes ist in dieser Kulisse Platz. Und auch machen will ich gerade nichts anderes, als hier zu sitzen und den Stimmen um mich herum zu lauschen.

Ich halte weiter inne und schmecke die hohe Luftfeuchtigkeit. Rieche eine Mischung aus feuchter Erde, Salz und süßen Zitrusfrüchten. Die behutsame Brise streichelt meine Haare und wärmt mich wie eine zweite Haut. Allmählich verinnerliche ich diese Atmosphäre und fühle mich weich und irgendwie abgerundet. 

 

„Wir sind die letzten Menschen auf dieser Welt und alles, was sich um dich herum zeigt, ist deine eigene Wahrnehmung. Alles, was du siehst und fühlst, befindet sich in deinem Kopf. Wie ein Spiegel deiner eigenen Empfindsamkeit, erkennst du alles um dich herum als Teil von dir. Ohne deine Augen könntest du nichts davon sehen. Ohne deine Sinne nichts davon fühlen. Ohne dass du hier sitzt und beobachtest, würde es keinen Beobachter geben, der all das in sich aufnimmt, aber es gäbe auch nichts, das bestaunt werden könnte. Ohne dich siehst du nichts davon, und nichts davon kann gesehen werden“, erklärt sie weiter, während sie immer noch unverändert nach vorne blickt. 

 

Ich höre, was sie sagt, ohne zuzuhören. Dennoch begreife ich, was sie mir zeigen will. 

 

„Das Ego ist nicht das, was an allem Schuld ist“, sagt sie. „Du kannst nicht anders, als dich für so wichtig zu nehmen. Du bist das einzige, was du wirklich sicher wissen kannst. Nur wenn du dich nicht wirklich kennst, dann ängstigst du dein Ego.“ 

 

„Was meinst du mit ängstigen?“, frage ich. 

 

„Das Ego ist dein inneres Kind, das ganz fest daran glaubt, etwas besonderes zu sein. Einfach deswegen, weil es das einzige ist, was es wirklich sicher wissen kann. Wenn du denkst, dann bist du. Jedoch passiert es von Zeit zu Zeit, dass du hinfällst. Und wenn du nicht lernst, wie man aufsteht, musst du dich verteidigen, da Besonderheiten nun mal nicht hinfallen dürfen in einer sonst perfekten Welt. Doch je mehr du glaubst, alle anderen seien perfekt und somit besser, bekommst du Angst. Angst davor zurückgelassen zu werden. Daher redest du den anderen und vor allem dir selbst ein, dass du doch etwas Besonderes bist. Das Ego macht sich nur so wichtig, weil es Angst hat, nicht mehr zu existieren, wenn es nichts Besonderes mehr ist. Es hat Angst vor seinem Mut und traut sich daher nicht zu handeln. Viel lieber bleibt es einsam in seinem dunklen Zimmer und versucht sich schluchzend davon zu überzeugen, zu existieren. Doch je länger es dieser Höhle nicht entfliehen kann, desto überzeugter ist es davon, die Schattenspiele, die es erzeugt, seien die Realität. Und daher spiegelt sich der Schatten immer stärker in dem, was es über sich selbst denkt.“ 

 

Ich muss diese Information erst einmal sacken lassen. Was mag das bedeuten? Verwirrt blicke ich weiter in Richtung vermutetem Horizont. „Du meinst das Ego ist nicht der Feind, sondern das Ich-Gefühl, das uns am Leben hält?“, frage ich.

 

„Ja richtig, das Ego ist das Ich. Und das Ich sorgt dafür, dass deine Bedürfnisse versorgt werden. Nur manchmal redet es sich selbst ein, Bedürfnisse zu haben, um besonders zu sein. Weil es Angst davor hat, nicht von vornherein etwas Besonderes zu sein. Weil es keinen Mut dazu hat, etwas besonderes zu machen. Daher redet es sich lieber ein, besonders zu scheinen, da es innerlich an sich zweifelt“, flüstert sie wieder. 

 

„Ich verstehe“, sage ich, während ich versuche meine Verwirrung zu überspielen. „Aber wie können wir dann lernen, besser mit dem Ego umzugehen?“, bemerke ich. 

 

„Indem du dich von deinem Ich trennst, um es als Teil von dir zu erkennen“, antwortet sie mir abwesend. 

 

"Ich weiß nicht, wie ich mir das vorstellen kann“, entgegne ich ihr. 

 

„Versetze dich in die jetzige Situation. Alles, was es für dich gibt, existiert nur deswegen, weil du es erleben kannst. Alles, was du siehst, fühlst, alles was du beobachtest, existiert nur in deinem Kopf. Ohne deine Empfindsamkeit würde nichts davon für dich existieren. Nicht einmal du, denn wie sollst du ohne eine Empfindung wissen, dass du da bist? Alles, was du erlebst, ist ein Spiegel deiner Empfindsamkeit. Alles zeigt sich dir so, wie nur du es erkennen kannst. Und du stellst fest, dass alles immer zwei Seiten hat, alles Gute hat sein Schlechtes, und zwischen Himmel und Erde verschwimmt der Horizont. Doch es bist du, der feststellt. Du brauchst also das Ego, um überhaupt etwas feststellen zu können“, blickt sie mich an.

 

„Aber wenn alles nur in meinem Kopf ist und ich, also mein Ego, eigentlich der Spiegel ist, existierst du doch trotzdem?“, erwidere ich vorsichtig. 

 

Sie sucht meinen Blick wie ich den ihren. Als sich unsere Blicke treffen, verlieren wir uns in den Augen des anderen. Max Planck meinte, ein Teilchen kann nur gesichtet werden, wenn es gesichtet wird, ansonsten ist es eine Welle, schießt es mir plötzlich durch den Kopf. In der Quantenphysik existiert das eine Teilchen nur durch das andere, und auch nur wenn einer hinschaut, erinnere ich mich weiter. Beide Teilchen belegen ihre eigene Existenz nur durch die Abgrenzung zum Anderen. 

 

Das Eine definiert sich durch das Andere und das Andere durch das Eine. 

 

Die Abgrenzung ist nur am Verhalten sichtbar. Weil sich Elektronen schlicht gegensätzlich verhalten als Protonen und Neutronen. Und dennoch ist alles Welle, wenn keiner schaut. 

 

Ein langes Schweigen intensiviert meine Gedanken, und ich verliere das Gefühl von Bedürfnissen. Es ist, als ob meine Empfindungen verstummen und ich nur noch da bin. 

 

„Tue ich das wirklich?“, flüstert sie.

 

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