Der Weg des geringsten Widerstandes

- Das Denken ist für die großen Ziele, das Fühlen für die Details - 

 

Ich sitze am Strand. Meine Augen schauen vertieft in die Richtung des Horizontes. Allmählich schiebt sich der Tag in den Vordergrund und verdrängt die Ruhe der Nacht. Der Dschungel erwacht, die Flut zieht sich zurück. Es wird nicht unbedingt lauter. Die Nächte hier sind genau so laut wie die Tage, alles lebt, alles atmet, alles hat Erwartungen an den anbrechenden Tag. Während manche sich schlafen legen und andere aufstehen, sitze ich hier und beobachte den Übergang von dunkel zu hell. Die Stimmung verändert sich erst schleichend, dann immer schneller und plötzlich ist sie da. 

So sitze ich hier, ohne wirklichen Grund oder Ziel; das ist das Schöne daran, wenn man keinen Zeitdruck hat, nichts, was man erledigen muss. Man kann einfach nur dasitzen und beobachten. 

So vergehen die Minuten, in denen ich gedankenlos vor mich hin triefe. Plötzlich erregt eine Bewegung meine Aufmerksamkeit. Kaum merklich schiebt sie sich in mein Blickfeld. Langsam aber unaufhörlich. Irgendwie erinnert sie mich an einen Zug, der sich durch Massen von Schnee schiebt. Nur ist sie deutlich langsamer und kleiner. Doch sie scheint sich genau so wenig von dem Widerstand irritieren zu lassen wie solch ein Zug. Sie ist eine dieser kleinen Schnecken, die am Strand aufploppen, sobald die Flut zurückgegangen ist. Kaum so groß wie eine 9 mm Patrone schießt sie in ihrer ganz eigenen Geschwindigkeit in Richtung Wasser. Ich schmunzle, was für ein ulkiges kleines Tierchen, wenn es doch nur wüsste, dass sie gerade im Begriff ist,  einen Kreis zu kriechen. Ich beobachte das Treiben. Nachdem sie einen wunderschönen Looping gedreht hat und nun zum nächsten ansetzt, will ich mich erbarmen und sie ins Wasser tragen. Die 20 Meter, die sie vor sich hat, wird sie so, wohl nicht überleben. Krebse beginnen nun allmählich den kleinen Schnecken den Weg abzuschneiden. Einige überleben diese Konfrontation nicht und dieser kleine Freund soll es unbedingt.

Als ich mich zu ihm beuge und ihn greifen will, höre ich eine Stimme. 

 

„Tu das nicht.“ 

 

Ich zögere, woher diese Stimme? Als ich ansetze, erneut: „Nein!“ Diesmal mit mehr Nachdruck, sodass ich zurückschrecke. Das war keine innere Stimme, irgendwer spricht zu mir. Doch als ich mich umsehe, steht da niemand. „Ah du bist’s“, sage ich erleichtert zu meinem kriechenden Freund am Boden. „Wieso sollte er auch nicht zu mir sprechen, schließlich ist er eine Schnecke und ich ein Mensch“, denke ich, während ich mit einem Lächeln akzeptiere, dass ich wohl allmählich bekloppt werde. Ich beschließe, ihn kriechen zu lassen und zu beobachten. Mittlerweile ist er bei seinem dritten Looping angekommen. Wahnsinn wie schnell Schnecken sind. Kaum lässt man sie einmal aus den Augen, sind sie viel weiter als man erwartet. 

Ich beschließe von oben die Hand über ihn zu halten. Sollte ein Krebs diesem Kumpel näher kommen, werde ich ihn mit meinem Leben verteidigen. Und so vergeht einige Zeit und ich stelle fest, dass wir dem Wasser tatsächlich immer dichter aufrücken. Gute 40 cm sind wir nun schon weiter, die letzten 19 Meter werden sicher wie im Flug vergehen. Ich taufe den kleinen Kerl Gary, ich finde, das ist der perfekte Name für eine Schnecke. Gary scheint wenig beeindruckt von mir und meinem Mutter Theresa Komplex und kriecht eine Weile geradeaus. Nur leider nicht in die Richtung des Wassers, vielmehr droht er einen gewaltigen Umweg zu schleichen. Aber gut, ich habe beschlossen, mich nicht mehr in seine Fahrweise einzumischen und folge ihm unauffällig. Tatsächlich beginnen sich nach einigen Minuten meine Gedanken über Gary zu ändern. Was ist das nur für ein spannendes Tier. Die scheinbar völlig willkürliche Kriechrichtung entwickelt sich nach und nach in ein erkennbares Muster. Erneut ein Looping, dann eine Schleife, gefolgt von einer weiteren Geraden. Wenn ich es nicht besser wüsste, fährt dieser kleine Kamikaze hier eine Achterbahnfahrt und das, obwohl von überall Gefahren drohen. Selbst ich könnte ihn einfach schnappen und futtern. Doch wie es scheint, ist das Gary egal, er will halt einfach seinen Spaß haben. Damit weckt er mein Interesse gerade in einem anderen Maße: warum wählt die Natur nicht den direkten Weg, wozu diese Loopings, wozu das zusätzliche Risiko? Aus Spaß? 

Plötzlich bemerke ich bei einer erneuten Schleife, die Gary gerade schleicht, dass der Sand direkt vor ihm uneben ist und er mit seiner Schleife perfekt daran vorbei driftet. Was war das? War das etwa beabsichtigt? Ich gehe auf die Knie, lege meinen Kopf ganz nah an den Sand, und versuche die Welt aus Garys Perspektive wahrzunehmen. Natürlich weiß ich nicht, wie eine Schnecke die Welt sieht, aber Widerstände sind für alle Wesen erst mal im Weg, also müsste ich sie sehen können, wenn ich nur nah genug ran käme. 

 

Ich halte die Luft an. Ist das möglich? Geht Gary schlicht den Weg des geringsten Widerstandes? Ich verfolge seine mittlerweile 70 cm lange Spur zurück. Immer dicht am Boden, versuche ich die Unebenheiten des Bodens zu erkennen. Und da sehe ich es. Jedes mal, wenn Gary die Richtung änderte, einen Looping zog oder eine Schleife band, war dies stets die einfachste Richtung, der einfachste Schritt sozusagen. Mit einem Satz stehe ich wieder bei Gary. „Stimmt das Gary, gehst du einfach immer nur dahin, wo es am einfachsten ist?“ Schweigen. Gary will mir nicht antworten. „Gut, wenn du mir nicht antworten willst, werde ich dich weiter beobachten und dich weiterhin beschützen, mein kleiner Freund“, flüstert es aus mir heraus. So leise, dass selbst ich unsicher bin, ob ich es überhaupt laut ausgesprochen habe.

 

Danke!“, reißt es mich aus meinen Gedanken. Wieder diese Stimme, wieder niemand außer mir und Gary. Doch dieses mal wundere ich mich nicht, ich bin viel zu sehr damit beschäftigt zu verstehen, ob Schnecken tatsächlich immer den Weg des geringsten Widerstandes kriechen. Wie kann das sein, und vor allem wie kann das funktionieren? Wer immer nur einen Schritt weit denkt, kommt doch niemals an. Um ein Ziel zu erreichen, braucht es Planung, Struktur, viele Details, die beachtet werden müssen,
Worst- und Bestcase, Szenarioanalysen und all das. Ich löse meinen Blick von Gary und betrachte sein Kriechmuster. Mir fällt ein Detail ins Auge und plötzlich überkommt mich eine Flut von Gedanken. Was, wenn der Weg des geringsten Widerstandes immer auch der angenehmste ist? Wenn wir immer nur von einem Schritt zum nächsten denken, können wir diesen Schritt so angenehm wie möglich gestalten. Indem wir den Schritt gehen, der am wenigsten Widerstand hat, gehen wir auch den angenehmsten. 

Ich schmunzle, was ist das für eine wunderbar unnötige Erkenntnis. Doch dann bemerke ich, dass ich sie nur noch nicht begriffen habe. Ist das Angenehme nicht auch immer mit Spaß verbunden? Empfinden wir keine Freude, wenn uns etwas angenehm ist? Und ist Freude nicht irgendwie das gleiche wie Spaß? 

 

Ich spüre wie ich allmählich der Sache näher komme. Da ist etwas, das noch nicht ganz in mein Bewusstsein gedrungen ist, aber langsam und stetig überkommt mich eine Welle der Euphorie. Und plötzlich ist es da: 

 

Was, wenn Gary nicht nur den Weg des geringsten Widerstandes gegangen ist, sondern schlicht und ergreifend auch noch Spaß dabei hatte?

 

Kann eine Schnecke Spaß daran haben, Loopings, Schleifen und Zickzackmuster zu kriechen und das im stetigen Bewusstsein, dass Gefahr droht, wenn sie nicht auf schnellstem Weg in Wasser gelangt? 

 

Bilder, von aus dem Wasser springenden Delphinen und Walen drücken sich in mein Bewusstsein. Vogelschwärme, die wunderschöne Formen fliegen, Menschen, die nur zum Spaß für sich selbst durch die Straßen tanzen und dabei pfeifen und singen. Schnecken, die Loopings drehen, einfach deswegen, weil es das Angenehmste für sie ist. 

 

Was bringt es, so schnell wie möglich ins Wasser zu kommen, wenn der ganze Weg bis dahin scheiße war, weil er nur so von Widerständen überschwemmt wurde? Was bringt es, den schnellsten Weg zu gehen, wenn er zu beschwerlich ist und man am Ende auch noch gefressen wird? Das Leben braucht
ein Ziel, jedoch gehört der Weg genauso zum Ziel, wie das Ziel selbst. 

 

Als ich meinen Blick wieder vom Boden löse und nach Gary suche, ist er verschwunden. Ich folge seiner Spur und stelle fest, dass sie sich irgendwo im Sand verliert. Dort wo die salzigen Wellen den Strand dunkel färben. Wie die Nacht, ist er erst schleichend, dann immer schneller und plötzlich ganz verschwunden. 

 

Mein Blick richtet sich erneut auf sein hinterbliebenes Muster. 

 

Das Denken ist für die großen Ziele, das Fühlen ist für die Details. Wer nur die Details denkt und keine Ziele fühlt, wird nie ankommen. 

 

Mit der Sicherheit, dass Gary sein Ziel erreicht hat, bewundere ich noch eine Weile seine gefühlten Details im Sand. 

Wenn das Leben Spaß macht, gibt es auch keine Widerstände mehr und zurück bleibt das schönste Muster, das man erleben konnte.

 

Danke Gary.