Über verschiedene Wege und Ecken

Das Wasser umschmeichelt unsere Füße. Wir sitzen an einem Bach. Stumm. Lassen die Sonne ihre Arbeit verrichten und das Wasser unsere Wurzeln versorgen. Der Tag war einer jenen, die sich entschieden hatten zum Sommertag zu werden. Und wir hatten keine Alternative als uns dem Ganzen zu ergeben. Schicksal. Doch die kalten Tage hatten ihre Spuren hinterlassen. Vieles wirkte noch vorsichtig. Einzelne Blumen reckten ihre Blüten in Richtung Licht. Viele andere waren noch versteckt, mutloser aber genauso hoffnungsvoll wie ihre Vorreiter. Heute aber galt der Tag der Entfaltung. Die Wärme lud ein sich auszuziehen. Dinge liegen zu lassen und zu er-leben. 

 

Irgendwann wurden wir von zartem Sonnenschein gekitzelt. Standen auf und Frühstückten mit zwitschernden Baumkronen bei offenen Fenstern. Keine Frage, das Leben war wieder erwacht und wollte heute umso stärker daran erinnern, dass der Sommer naht. Eigentlich die perfekte Vorlage für einen gelungenen Tag. Doch so einfach ist das mit heilenden Wunden nicht. Es braucht seine Zeit bis die Kälte aus alten Gemäuern entweicht und der Prozess des Auftauens ist verflixt wetterabhängig. 

 

Nach dem Frühstücken verließen wir die Wohnung. Ein Drang nach frischer Luft in tiefe Lungen wurde stark, und so kam jeder auf seine ganz eigene Weise nach draußen. Gelegentlich begegneten wir Gesichter, deren Augen noch verhangen wie die letzten Tage waren. Einige wenige hatten neuen Glanz und blitzten auf sobald man sich in ihnen widerspiegelte. Doch die meisten suchten am Boden nach Halt und wagten sich seltener auf Augenhöhe. Mir viel ein junges Mädchen in den Blick. Sie war vielleicht acht, vielleicht zehn. Auf ihrer Netzhaut spiegelten sich grell funkelnd die Bilder von bunten Blüten. Aufgeregt blinzelnd staunte sie von einer zur nächsten. In ihrer linken Hand hielt sie eine junge Frau. Vermutlich ihre Mama. Sie sah müde aus, konnte sich jedoch ein liebevolles Lächeln erhalten. Doch ihre Augen, verhangen von Sorgen, verrieten das viele Frösteln der vergangen Tage. 

 

Ich kam nicht hinweg mir die Frage zu stellen, was sie wohl erlebt hatte. Die Kälte ist für jeden immer eine ganz eigene Erfahrung. Dennoch bestehen diese nie aus mehr als einem Gemisch aus Trauer, Freude, Wut und Angst. Diese gemischten Gefühle, deren Ausprägungen je nach Situation persönlich werden und die wir alle haben. Ich stellte mir vor wie ihre feuchten Augen an kalten Tagen aus dem Fenster blickten und im weißen Treiben vor dem Sims einen Sinn suchten. Ich schauderte. Ich spürte, wie Erinnerungen in mir nach oben krochen und mich fröstelten. Ich kannte diese Tage. Diese Momente, wenn trotz gesättigter Grundbedürfnisse das Licht einfach nicht zum Vorschein kommen wollte. Das bedeutete nicht immer etwas dramatisches, vielmehr war es umso undramatischer je stärker es war. Gefangen zwischen verlorener Hoffnung und Gleichgültigkeit. 

 

Wozu das alles? Wenn doch eh alles nur Zufall ist, das ganze Universum, die Erde, meine Welt, ich, warum dann noch kämpfen? Für was? Das tägliche Klingeln des Weckers? Das wiederholende im Berufsverkehr stehen? Das beständige Warten auf hellere Tage? Die immerwährende Aufgabe des eigenen Glücks für andere? Der Ausstieg aus diesem Kreislauf verlockend süß, da nicht mal der verlorene Glaube noch vom frühzeitigen Abbruch abhalten kann. Das Leben nach dem Tod genauso unwahrscheinlich wie 35 Grad im Dezember. 

 

Gefangen in meinen Überlegungen begann ich müde zu werden. Traurigkeit stieg in mir auf. Benetzte meine Netzhaut und legte sich auf meine Stimmung. Der Gedanke daran, wie viele Menschen wohl täglich solche Gedanken hatten. Stumm weinend vor dem Computer, im Auto, beim Partner im Arm. Beim Spazierengehen mit der Tochter…

 

Ich seufzte. Die Welt ist manchmal ein sehr schmerzhafter Ort. Viele Schicksale, die wie Glas in dunklen Gassen zerbrachen. Tränen, die wie Regen wegwaschen und mitnehmen was nicht stark genug ist zu widerstehen. Verzweiflung, die wie kleine Nadeln ins Herz piksen und beim Atmen stören wie Nadeln in einem Heuhaufen. Oder war es Heu in einem Nadelhaufen? 

 

Die Illusion, dass andere nicht auch dieselben Gefühle in den gleichen Situationen haben, ist Täuschung. Und Enttäuschung kostet Kraft, sowie sie an der eigenen Energie zehrt. Gerade dann wenn Energie ohnehin Mangelware ist.

 

Wie dem auch sei, ich schritt weiter meinen Weg. Versuchte mich an wärmenden Sonnenstrahlen aus meinen kühlen Gedanken zu ziehen und den Tag zu genießen. Jedoch steckte auch mir noch die Kälte in den Knochen und überredete mich, sie endlich zu akzeptieren. So gab ich nach, als ein kleiner Bach meine Aufmerksamkeit weckte. Wasser, vor allem wenn es kalt ist, hat eine heilende Wirkung. Es konzentriert, schafft Durchblick in einem Nebel aus überhitzenden Gefühlen. Erdet. 

 

Neben einem Baum leuchtete mir das frische Grün einer bequem aussehenden Wiese entgegen und forderte mich auf, zu kommen und zu bleiben. Ich setzte mich, zog meine Schuhe aus und streckte die Füße ins Wasser. Es dauerte nicht lang, bis die Wechselwirkung aus kaltem Wasser und warmer Sonne einen Zustand erzeugten, der mich einnahm. Ich schloss die Augen. Atmete ein. Atmete aus. Spürte wie kaltes Blut meine Beine empor floss und sich auf seinem Weg zum Herz immer weiter aufwärmte. Nur um schließlich wieder zu erkalten, sobald es wieder unter die Wasserkante viel. 

 

Ich weiß nicht, wie lange sie schon neben mir gesessen hatte. Irgendwann spürte ich eine Veränderung neben mir. Ich hatte die Augen nicht geöffnet, schlicht davon ausgehend nicht in Gefahr zu sein und im völligen Einklang mit meinem Kreislauf. Unantastbar wie eine Einheit aus allem, was tastet. Wenn alles eins ist, kann man sich nur selbst fühlen. Mir war durchaus bewusst, dass jemand neben mir saß. Zunächst war ich unsicher gewesen, doch dann hörte ich, wie sie zärtlich in meinen Atemrhythmus einstieg. Fühlte die Veränderung der Strömung an meinen Füßen, als sie ihre sanft dazu gesellte. 

Wie sie mir später erzählte, war sie spazieren, genau wie ich. Jedoch kam sie von der anderen Seite der Gegend. Hatte ebenso kein bestimmtes Ziel. Ließ sich von Gesichtern und ihren Geschichten treiben und landete wie Strandgut an meinem Ufer. 

 

Nach einer Weile des Schweigens öffne ich meine Augen. Ich richte meinen Blick in ihre Richtung und betrachte den Zu-fall. Ein strahlendes Leuchten fesselt mich. Sie öffnet die Augen. 

 

Man sagt, in den Augen erblickt man die Seele eines Menschen. Was aber, wenn man seine eigene darin erkennt? Als ich mir ihrer gewahr werde, verschluckt es mich. Schwerelos sinke ich wie in einem Strudel immer tiefer in ihre Augen. Verliere den Bezug zur Realität und finde mich in unzählbaren Bildern wieder. Bilder, die mehr als tausend Worte sagen und mich mitreißen. Gefühle geben den Bildern Sprache, überreden mein Selbst und ich werde bewusst. 

 

„Ich kenne dich“, sage ich plötzlich. 

 

Sie lächelt. Bleibt jedoch stumm. Ich bemerke eine Träne in ihrem rechten Auge, die sich allmählich über ihre Lieder schiebt. 

 

„Warum weinst du?“, frage ich, während ein herabfallender Tropfen auf meine Hand platscht. 

 

Sie nickt, gibt mir damit zu verstehen, dass ich angefangen habe und sie wohl eingestiegen ist. In der ganzen Verwirrung ist mir dies nicht aufgefallen. Entsprechend überrascht reagiere ich und wische mir über die Wange. 

 

„Das habe ich nicht bemerkt“, antworte ich verlegen. 

 

Sie nimmt mich in den Arm und drückt mich an sich. 

„Ich weiß nicht, wer du bist“, flüstert sie mir ins Ohr, „doch ich kenne dich auch.“

 

Ich bin verwirrt, kann die Situation nicht einschätzen und frage: „Wie kann ich das verstehen?“ 

 

Sie löst sich von mir und schaut mir fest in die Augen. „Ich werde dich nicht fragen, wer du bist“ antwortet sie mir. „Du wirst es mir ohnehin nicht sagen können. Die Menschen sind nicht das, was sie von sich sagen. Zu verstrickt in Widersprüche sind die Erzählungen der eigenen Identität. Aber sie sind das, was sie machen.“

 

„Aber was mache ich?“, murmle ich irritiert. 

 

„Nicht was du machst, ist wer du bist. Sondern das, was du gemacht hast. Worte sind Schall und Rauch. Taten sind es, die die wahre Identität preisgeben.“ 

 

Mein Blick gleitet an ihrem Arm herab und bleibt an den Unebenheiten von mustersamen Narben in der Nähe ihrer Pulsschlagader hängen. Plötzlich beginne ich zu begreifen, was offensichtlich ist. 

 

„Du bist kein menschliches Wesen mit spiritueller Erfahrung. Vielmehr bist du ein spirituelles Wesen mit menschlichen Erfahrungen. Doch sobald wir auf die Welt kommen, beginnen wir alles zu vermenschlichen, sogar uns selbst. Doch das ändert nichts daran, dass wir alle im selben Universum leben. Aus demselben Material bestehen wie die Sterne und dem Nichts um uns herum. Zu sagen, das Universum habe kein Bewusstsein, während man Bestandteil davon ist, klingt genau so schizophren, wie zu brüllen, dass man nicht wütend ist. Ich kenne dich, weil ich die Taten kenne, die du getan hast um heute hier zu sitzen. Ich erkenne sie, weil sie den Meinen gleichen. Schließlich sitze ich auch hier wie du siehst.“ 

 

Ich lächle. Zwei Seelen, die verschiedenes erlebt und doch dasselbe dabei gefühlt haben. Rückblickend betrachtet dazu bestimmt heute, hier aufeinander zu treffen und sich selbst zu erkennen. Universum, Schicksal oder Zufall, war das wichtig? Beide durch die Erfahrungen unseres Lebens entwickelt und sich begegnend, als es Zeit dafür war. 

 

„Ich teile deine Trauer, fühle denselben Schmerz, spüre wer du bist. Ebenso wie ich mit dir lache, wenn du dich freust, weil ich weiß, wer ich bin.“ 

 

Ich muss kichern, höre wie sie einsteigt und bald schon lachen wir so grundlos wie ausgelassen. Wir redeten noch eine Weile. Verglichen unser beider Leben und fanden Gemeinsamkeiten, ebenso wie Unterschiede. Lernten uns selbst im anderen kennen. Stellten fest, das Unterschiede nur situativ sind, nicht aber Emotionen. Waren beide aus denselben Gefühlen gestrickt und hatten ein gleiches Muster mit ganz persönlicher Farbgebung. 

 

Irgendwann standen wir auf. Es war kühl geworden und unsere jeweiligen Wege forderten unsere Anwesenheit. Ich umarmte sie. 

 

"Wer auch immer du bist, ich liebe dich“, flüstert sie mir ins Ohr, küsst mich und verlässt mich. 

 

Ich blicke ihr noch eine Weile nach, drehe mich auf meinem Weg immer wieder um, verliere allmähliche ihre Umrisse am Horizont und bin glücklich während ich Tränen in den Augen spüre. 

 

„Ich liebe dich, wer auch immer du warst!"