Über das Da-Sein

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Tja, da saßen wir nun. Uff… Viel passiert seither. Viele Kämpfe, viele Siege. Der Wind streift uns durch die Haare. Zärtlich, fast wie ein Streicheln schmiegen sich die Lüfte an unsere Haut. Existieren. Da-Sein. Alles, was am Ende übrig bleibt, ist das, was Da war. Jene Momente, in denen wir die Zeit verstreichen ließen. In denen jeder Atemzug freiwillig war. Die Sonne trifft auf meine Haut und wärmt. Ich inhaliere tief in meine Kehle. Spüre wie die warme Luft meine Lungen füllt und mit sich alles Schwere nimmt, als sie wieder ausströmt. 

 

Tja, Leben. Wer hätte das gedacht? Dass wir uns nochmal wiedersehen. Zu verkopft dringt das Da-Sein nicht zu einem durch. Die eigenen Bretter an die Stirn genagelt, unfähig etwas anderes als die eigene Perspektive zu betrachten. Den Blick stets nach unten gerichtet, weil die Sonne blendet und alles viel heller macht, als man erkennen kann. Zu grell scheint die Realität. Zu krass. Gegensätzlichkeiten in stetigem Streit, wo doch alles so einfach sein könnte. Am Boden findet man Schutz vor zu viel Fernweh. 

 

Ich höre das Zwitschern eines Vogels, das über das Fließen des Windes zu mir dringt und mich zurück ins Jetzt lockt. Natural Mystic. Die Melodie des Natürlichen. Der Biorhythmus. Der Beat, indem wir alle schlagen, einfach deswegen, weil wir Teil dieser Welt sind, auch wenn wir glauben, wir wären das einzige Subjekt hier. Wieso glauben wir eigentlich, wir wären die einzigen mit Bewusstsein? Vielleicht ist auch alles Bewusstsein, nur wir haben kein „Selbst“ davor? 

 

Wir sitzen stumm nebeneinander. Im stetigen gewahr sein des anderen, doch im Frieden, einfach um seiner selbst willen. Wie viele Male wir hier wohl schon saßen? Ich weiß es nicht mehr. Gut möglich, dass ich schon hier war, bevor ich „Ich" wurde. Schöne Plätze werden schon immer gerne aufgesucht, nicht unwahrscheinlich also, dass ich in einem früheren Leben schon mal dagesessen habe und vor mich hin träumte

 

Ich denke an eine Szene, einen Moment in der Vergangenheit. Das Vergangene lässt sich nicht ändern, aber vielleicht lässt sich daraus lernen… 

 

Sie steht ihm gegenüber. Bricht mit ihrem Blick seine verspannte Stirn. Dringt tief in seine Gedanken ein und erweckt neue Geister zum Leben. Der Hauch von Grau drängt sich aus seinen Augen und lässt mehr Farben zu. Er hat es geschehen lassen, unwillig sich zu wehren. Liebe ist mächtiger als du, daher ist sie auch so begehrt. Sogar für Geld wird sie angeboten, doch was hier verkauft wird, sind Illusionen, nicht das, wovon ich erzählen möchte. 

 

Ich weiß nicht mehr, wie sie sich begegneten, doch ich weiß, wie es sich anfühlte. Liebe auf den ersten Blick. Dieses Gefühl, sich einer bekannten Seele im Anderen gewahr zu werden und als Teil der eigenen zu erkennen. Ein Verbindung, älter als das persönliche Leben. Womöglich betrachteten sie sich zufällig. Er streifte ihren Blick, blieb daran hängen und erkannte sie. Diese Augen, die er wieder erkannte, selbst wenn sie aus einem früheren Leben kamen. Vielleicht ging sie auf ihn zu, betrachtete seine Augen, und verlor sich darin. 

Sie fühlte, was er fühlte, auch wenn sie es sich nicht erklären konnte. Magische Momente entziehen sich dem Verstand. Liebe ist so ein Moment. Unverständlich und daher so viel mächtiger, als wir es je in Worte fassen können. Und doch haben wir alle Anteil daran. Manchmal über Epochen. So standen sie da, zwei Fremde, die sich schon ewig kannten und den anderen im eigenen Selbst wiederfanden. Sie tauschten Gefühle ohne zu sprechen. Lachten, weinten, verstummten und versanken in sich. 

 

Die Erinnerung ver-schwimmt etwas in meinem Kopf umher, vermischt sich mit neuen Interpretationen und formt sich manchmal neu. Unheimlich, wenn man bedenkt, wie sehr wir uns daran klammern, wer wir sind, wenn doch alles, woran wir uns erinnern, nur die eigene Perspektive ist.

Wobei, das verrät viel, wenn man mal darüber nach-denkt

 

Wie dem auch sei. Gut möglich, dass er seine Arme um sie schlang, sie fest an sich zog und seine Stirn gegen ihre drückte. Sie in seinen Atemrhythmus einstieg und sich in ihm vereinte. Die Gedanken verflogen mit dem Rauschen der Blätter und außer ihnen verlor sich die Welt im Da-Sein. Ein Gefühl von Geborgenheit, von Aufgehoben-Sein in jenem Moment, in dem sie sich wiederfanden. Man trifft sich immer zweimal, nicht nur in einem Leben. 

 

Reines Sein ist immer unendlich. Es bricht sich nur, wenn der Krieg ausbricht. Gedanken, die Ruhe stören und Ängste, die aus dem Glücklich-Sein reißen. Ihre Liebe wurde unterbrochen durch die Umstände. Bomben, die vom Himmel fielen und Träume zerstörten, genau wie sie Hoffnungen unter sich begruben. Der Zweite Weltkrieg traf sie unerwartet, genau wie alle, die an die Front oder zurückbleiben mussten. Kein einzelner vermag sich auszumalen, was passiert, wenn Dickköpfe aufeinander krachen. Vor allem dann nicht, wenn sie an den Hebeln der Macht sitzen. 

 

Naja, das Ende der Geschichte ist kurz. Er wurde eingezogen, genau wie sie von ihren Eltern. An einem Tag am Ende des Jahres 1945 traf ihn eine Kugel in die Brust in dem Moment, in der die Bombe das Elternhaus zerstörte, in welchem seine Geliebte unter einem Tisch kauerte. Als sie das Geräusch des Todes, der durch die Decke krachte, vernahm, tropfte eine Träne auf ihre geschundene Hand. Benetzte den Ring an ihrem Finger und verband sie mit ihm. Mit einem letzten geflüsterten „Ich liebe dich“ verabschiedete sie sich von ihm, ihrer Welt und ihrem gemeinsamen Da-Sein. 

 

Zeitgleich, sozusagen gleichzeitig, brach er in sich zusammen, fiel auf den Rücken und richtete seine Augen gen Himmel. Spürte, wie die Lebensgeister wichen, zuckend, und ihn allmählich verließen. So vieles, was sie noch erleben wollten, so vieles, was noch zu tun war - und nun? Vorbei der Traum, vorbei das Leben. Er kämpfte, versuchte sein Herz wieder zum Schlagen zu bringen, doch die Kugel darin erinnerte ihn daran, dass sein Herz mit dem Einschlag aufgehört hatte, zu sein. „Ich liebe dich“ war das letzte, was er vernahm. Vielleicht war es nur in seinem Geist, doch in jenen Momenten, wo Realität mit Vorstellung verschmilzt, unterscheiden sie sich nicht mehr. 

 

Er konnte seine Augen nicht mehr schließen, zu groß die Angst, sie nie wieder zu sehen. Ihr Gesicht in einer Träne auf seiner Pupille, ließ er los, und erlosch. 

 

Tja, Leben, da sitzen wir nun. Ich hätte nicht gedacht, dass wir uns noch einmal sehen. Und wieder hast du mich vom Gegenteil überzeugen können. Nicht mit Worten, sondern einfach nur durch dein Da-Sein. Wer weiß, wie diese Runde läuft. Vielleicht lernen wir eines Tages zu leben, anstelle gelebt zu werden. Momentan sehe ich jedoch dieselben Kriege, nur die Schlachtfelder haben sich geändert. Kämpfe werden im eigenen Kopf gefochten und brechen Herzen genau wie Kugeln. Vorstellung und Realität, wo liegt der Unterschied, wenn der kopfgemachte Stress zum Ausbrennen führt. Am Ende erlischt das Licht, egal ob durch Bomben oder Depressionen, das Resultat sind zerstörte Träume

 

Ein schwerer Seufzer löst dunkle Gedanken und drückt auf meine Brust. Ich lege den Kopf in den Nacken, betrachte die Wolken. Sehe sie vorbeifliegen wie Generationen unter eigentlich blauem Himmel. Die Gedanken sind frei, also lasse ich sie gehen. Vielleicht ist alles viel einfacher als man denkt... Vielleicht denkt es sich komplizierter, als es gemacht ist… Vielleicht ist Denken genau das Gegenteil von Da-Sein? 

 

Ich schließe die Augen. Lächle. Spüre die Sonne auf meinem Gesicht. Atme. 

 

"Ich denke, also bin ich…", ist das letzte woran ich denke, alles danach bin nicht mehr ich, sondern viel mehr.