Über gedankliches Abdriften

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Ihr Lächeln verleiht der ganzen Szene etwas Magisches. Das Restaurant ergibt sich in eine kleine französische Seitengasse. Die Weinblätter hängen von dem gemauerten Häuschen aus längst vergangenen Tagen herab. Die Sonne ergießt sich irgendwo am Horizont in eine zauberhafte Abendröte. Einen Tag lang erkundeten wir das Städtchen in der französischen Provence. Ließen uns die Sonne von romantischen Weinbergen aus schmecken und badeten über zahllose Wege in einem Meer aus verschiedensten Geschmäckern der lichtverwöhnten Gegend. Zu guter Letzt landeten wir in einem Restaurant aus einer anderen Zeit. 

Ich schmecke Kräuter und die Luft riecht angenehm nach süßlichem Rotwein und frischen Gewürzen. Im Anblick solcher Lebensfreude ergab ich mich den Eindrücken und vergaß gänzlich den Gedanken an etwas anderes als dies zauberhafte Hier und Jetzt. Blinzelnd fließt ein Gefühl wie warmer Honig meine Adern entlang und erfüllt mich mit dem Gefühl, endlich angekommen zu sein. 

Als sei das ganze Universum nur für jenen Moment entstanden. Sie funkelt mich an. Ihre Augen erinnern mich an schimmernde Edelsteine. Die Abenteuerlust lacht mich aus ihrem Blick an. Gepaart mit einer lieblichen Zärtlichkeit, mit welcher sie mein ganzes Sein umschmeichelt. Sie kitzelt meine Seele, belebt mein Herz. Ich bin glücklich und sehe in ihr einen Mittelpunkt, um welchen sich meine ganze Welt drehen darf. Ich bin letztlich doch ein Romantiker und im Anblick der untergehenden Sonne erstrahlt ihre Gestalt in einem Gold, welches mir den Atem raubt. 

 „Mon Cherie“, sage ich. Sie freut sich ein kindliches Lächeln. Zwinkert mir zu und schaut mich verträumt durch ihre großen Rehaugen an. Der Rotwein hat schon nach den ersten Schlücken zu wirken begonnen. Zwischen ihr und mir herrscht eine elektrische Atmosphäre. Der ganze Tag hatte uns liebevoll empfangen und uns der Liebe verschrieben. Die Hormone des Tages betteten sich neben all die Empfindungen des Glücks und ergaben ein knisterndes Gemisch aus kindlicher Keckheit und jugendlicher Leidenschaft. 

 

Wir hatten verträumt in französischen Blumenwiesen gelegen. Uns zärtlich geküsst, das Leben verzehrt und waren bereit für jenen unausweichlichen Nachtisch, der das Sahnehäubchen unser Begegnung werden sollte. Es war jener Moment, als ihre Augen die meinen trafen. Als umkreisten sich unterschiedliche Leben zum wiederholten Male. Eine Liebe, die so gewaltig war, dass sie sich erneut traf. 

 

Der Tag war aufregend, wahrlich verjüngend. Wir bezogen Rast. Bereit für eine traditionelle französische Küche. Ihre Bestellung war ein hausgemachtes Ratatouille, meines eine klassisch intensiv duftende Gemüsepfanne mit landtypischen Bauernsalat. Ich hatte einen lokalen Rotwein aus dem Vorjahr geordert und wir waren bereits bei dem zweiten Glas auf nüchternen Magen. 

 

„Was denkst du?“, fragt sie mich unvermittelt in einen Moment der Ruhe hinein. 

 

„Ich bin absolut glücklich“, antworte ich nach kurzer Zeit. 

 

Es war einer jener Momente, die so perfekt aus einem Disneymovie herausgenommen schienen und insgesamt die Perfektion des Hier und Jetzt darboten. Das Leben hatte uns des Tages mit Eindrücken überschüttet und es war keinem von uns möglich, sich nicht unendlich erfüllt zu fühlen. Der Geruch von frisch gemähten Wiesen, deren sonnenverwöhntes Gras die Landschaft in einen sanften Hauch von einfacher Unendlichkeit hüllte. 

 

„Das ist eine gute Antwort“, bemerkt sie nach kurzem Überlegen. Der Kellner kommt und bringt uns bereits unsere Vorspeise. Eine Augenweide aus französischen Salami und Käse, die so fein duftend die gesamte Szene zu dem absolut filmreifen Moment verwandelt, den ich mir in meiner Fantasie erlauben kann. Es ist perfekt. Der Tag, die Kulisse, das Leben. Ich inhaliere die Luft und speichere so viel wie ich kann in meinem Innersten ab. 

 

Sie sucht meine Hand und greift nach meinen freien Fingern. Ich gebe nach und lasse mich von ihr einnehmen. Ist es nicht die Liebe deretwegen wir streben?, geht ein letzter Gedanken durch meinen Geist. Ich bin verzaubert von so viel Romantik. Gebe mich ihrer Anziehung hin und schmelze unter ihren Berührungen. 

 

Ihr Blick findet meinen in einem magischen Moment. Weckt Bilder in den Tiefen meiner Seele. So als sähe ich sie ein weiteres Mal. Vielleicht war es das, vielleicht war es im Leben stets dieselbe Erzählung. Jene romantische Geschichte zweier Liebenden, die sich bereits begegneten, und dennoch unter der Geschichte der Vergangenheit darbten. 

 

Ich nehme ihre Hand und küsse sanft ihre Finger. Eine liebevolle Wollust ergreift mich und fesselt meinen Atemzug an jede ihrer Bewegungen. Und während die Sonne ihr letztes Intermezzo gibt, klingen die besten Klassiker der frühen französischen 60er Jahre über die Lautsprecher durch die Gassen. Frisches Baguette duftet in feinen Spuren von Olivenöl und Knoblauch von Tisch zu Tisch und umhüllt mich in Genuss. 

 

„Du bist ein strahlender Stern“, entweicht es mir unverhofft. Ich bin so im Glück, dass ich die Kontrolle über meine Gedanken verloren habe. Sie hypnotisiert mich, zieht mich in die Mitte ihrer Aufmerksamkeit und ich will bestehen.

 

Sie kichert, ihre Wangen laufen leicht rötlich an. Es ist zum Dahinschmelzen. Als malte Michelangelo das Gemälde der Gefühle höchstpersönlich. Ich bin bereit, in diesem einem Moment zu enden. So als spitzten sich all jene Vergangenheiten zu diesen einem Augenblick zusammen. Die Magie bannt mich in Trance und ich verliere jede Wahrnehmung für die Außenwelt. 

 

Gefangen im unendlichen Glück, lasse ich los und weine lachend vor Freude längst vergessene Tränen.

Das Leben, als vegetiere man schließlich für jenen einen Moment der ewigen Lebendigkeit. 

 

Ich schließe die Augen, inhaliere mein Glück und lobpreise die Existenz für ihr Dasein.

Als ich die Augen öffne, blickt mich das Weiß der Wand vor meinem Gesicht an. Nach kurzer Orientierung finde ich mich im Beisein meiner Alltäglichkeit in meinem Arbeitszimmer wieder. Den Blick auf die Löcher in der Wand vor mir fokussiert, eine Flasche Rotwein intus und Brain Ferry aus den Lautsprechern. Das letzte Glas gelehrt. 

 

Ich schüttle meinen Kopf, ich war wohl abgedriftet. Es wurde Zeit ins Bett zu gehen. Doch die Fantasie würde mich begleiten. War es letztlich nicht das? Liebe in ihrer Vollkommenheit? Vollbracht in einem Moment der Unendlichkeit und gelebt in der Zeitlosigkeit eines französischen Abends fernab jeder Berufung, endlich und doch frei in seiner Bestimmung? 

Luca Merkle