Über die Realitäten deiner Wirklichkeit

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Sie schlägt die Augen auf. Die Welt, die sich ihrem Blick darbietet, ist atemberaubend. Die unendliche Küste zu ihren Füßen. Der Wind, der sanft über ihr Gesicht streichelt. Das Meer, das sich ruhig, mit zartem Rauschen am Strand bricht und so einen Rahmen aus wiederkehrenden Hintergrundgeräuschen kreiert. Ihr Atem, der sich nahezu nahtlos darin einbettet, genau wie sie, die sich im Ganzen als Teil von allem wiederfindet.  

Weit vor ihr, doch genauso als könnte sie danach greifen, küsst die Sonne den Horizont und schimmert mit kräftigen rot-orangen Farbintensitäten auf der sich ihr zu bewegenden Wasseroberfläche. Die sanften Wellen erzeugen den Eindruck einer einzigen, riesigen Weite aus leuchtenden Farben. Einer Oberfläche, die sie mit hypnotischen Bewegungen flüsternd zu sich ruft.  

Sie tritt vor. Schrittweise nähert sie sich der Kante. Der Kante, bevor sich das Land ins Wasser bricht. Mit jedem weiteren Schritt nähert sich der Abgrund. Schritt für Schritt. Ein Fuß vor den anderen. Als sie ankommt, bleibt sie stehen. Harrt am letzten Fleckchen Erde und senkt den Kopf. Die Tiefe schwindelt. Sie schwankt. Atmet und sammelt sich erneut.  

Oft hatte sie sich Gedanken gemacht. Oft mit dem Leben gespielt. Doch als sie begann, mit dem Gedanken zu spielen, ihrem Leben ein Ende zu setzen, schienen sich ihre inneren Welten nur noch mit dieser Thematik beschäftigen zu wollen. Eigentlich hatte sie keinen Grund zu gehen. Es war noch nicht einmal so, dass sie wirklich vor etwas davonlief. Sie hatte keine Vergangenheit, die sie zwangsläufig an diesen Punkt hätte bringen müssen. Vielmehr war der Entschluss, heute hier zu sein und sich diesem Bild ausgesetzt zu sehen, reiner Zufall.  

Noch am Morgen war sie ganz unerwartet aufgewacht. Hatte ihre sieben Sachen gepackt und war bereits auf dem Weg in ihren Alltag. Doch wie aus heiterem Himmel war sie von ihrem Weg abgekommen. Fand sich auf Abwegen und Verwirrungen mit sich selbst konfrontiert, irrte letztlich an Vergangenem und zukünftigen Möglichkeiten umher und landete plötzlich hier. Der Autopilot hatte sie irgendwann aufgesammelt und sie gänzlich im Unbekannten darüber gelassen, wo sie mittlerweile herausgekommen war.  

Sie schließt die Augen. Eine einzelne Träne verläuft sich mutig auf ihrer Wange. Rinnt herab und springt von ihrem Kinn hinab in den Abgrund, um sich tief unten mit dem Ozean erneut zu verbinden. Zurück dahin, wo sie vor langer Zeit selbst hergekommen war. Zurück ins Unbekannte, zurück in den Pool aus Möglichkeiten, aus dem einst alles Leben herauskletterte.  

Als sie zu summen beginnt, verrät sie das Lächeln, das sich über ihre Wangen ausbreitet. Sie war am Ziel. Endlich angekommen an dem Ort, an dem alles begann und letztlich auch alles sein Ende finden würde. Sie verstummt, atmet ein letztes Mal tief ein und öffnet die Augen. Ihr letzter Blick gilt der großen, gelbroten Scheibe, die sich allmählich im unendlichen Meer selbst versenkt, um darin unterzugehen. Genau wie sie.  

Sie nimmt all ihren Mut zusammen. Es ist nur ein Schritt, ein letzter Sprung, danach ist es ganz einfach. Danach ist es nur noch Fallenlassen. Sie strahlt. Ein Blitz in ihrer Pupille. Der Moment absoluter Lebendigkeit war gekommen. Berauscht von so viel Energie, lässt sie den finalen Gedanke gehen. „Danke…“ ist das letzte, das ihr durch den Kopf geht, bevor sie loslässt und springt.  

Das Fallen kommt ihr leichter vor, als sie es erwartet hatte. Der Wind, der sie ohrenbetäubend ganz in sich verschluckt und das Meer, das auf sie zuzurasen scheint oder ihren Flug absehbar macht. Doch je näher sie dem Grund kommt, desto weniger nimmt sie sich selbst noch war. Mit dem Wind verfliegt gleich zu Beginn ihr Ego und was bleibt, ist die Essenz ihres wahren Seins. Jenes Kerns, der im Angesicht des Todes zu lächeln beginnt, weil er das Licht am Ende des Tunnels er-kennt. Der das ganze Prozedere schon seit dem Tag ihrer Geburt erwartet. Jener Teil, der ihrem Körper Energie einhaucht und letztlich weiß, dass auch er am Ende wieder ein Teil der Gesamtenergie, wie der Tropfen im Ozean, sein wird.  

Kurz vor der Wasseroberfläche bleibt die Zeit stehen, Bilder rasen an ihrem Geist vorbei. Momente ihres Lebens, die sie wie aus einer Erzählung wahrnimmt, im Herzen jedoch weiß, dass es ihre Geschichte ist, die sie vor ihrem inneren Auge vorbeiziehen sieht. Sie lächelt. Alles in allem hatte sie alles richtig gemacht. Insgesamt war es ein gutes Leben. Sie seufzt, lacht, weint und brüllt. Wie in Zeitlupe kommt das Wasser nun noch auf sie zu. Beginnt in den letzten Strahlen der untergehenden Sonne ganz in rotem Gold zu leuchten und empfängt sie mit warmer Unendlichkeit. Das letzte, was sie tut, ist lächeln. Dann geht sie von dieser Welt.  

„LEVEL COMPLETED…“

Blinkt es plötzlich in großen roten Lettern in der Mitte ihrer Wahrnehmung. Weiter unten ein Bedienfeld mit der Aufschrift: „Neustart“. Sie schüttelt sich, greift mit den Händen an ihren Kopf und tastet. Findet, wonach ihre Finger suchen und nimmt sie ab. Als sich ihre Augen an das Licht gewöhnen, steht sie in einer Halle. Vor ihr ist ein Ventilator aufgebaut. In ihren Händen hält sie den neusten Prototyp einer VR Brille. An ihrem Körper befindet sich eine Weste mit unzähligen Elektronen, deren Funktion sie wohl niemals im Ganzen begreifen können würde. Ebenso die Handschuhe, die sie gerade nicht im Stande war aus den Augen zu verlieren.  

Der Ventilator wurde abgestellt, das Computerspiel beendet. Die Simulation war vorbei und sie völlig neben sich. So etwas hatte sie bisher nicht erlebt. Der Zufall trieb sie an dieser Anlage vorbei und sie verfing sich im Eingangsbereich wie ein Ast am Flussufer. Sie war allein gewesen, einfach hineingegangen. Und da sie zu jenem Zeitpunkt der einzige Gast war, stand ihr die gesamte Halle zur Verfügung. Sie hatten nicht lange geredet, als sie am Tresen stand. Der Mitarbeiter lud sie ein, den neusten Typ dieser Virtual Reality zu probieren und sie hatte nicht nein gesagt.  

Nachdem sie sich also in voller Montur in der Mitte der Halle platzierte und sich ans Web anschloss, verlor sie kurze Zeit später das Gefühl des Anzuges und vergaß, in einem Spiel zu sein. So, als seien die Erfahrungen, die sie gerade virtuell machte, zu intensiv, um im Hinterkopf zu behalten, dass dies alles eine Simulation war.  

Die Welt, die sie betrat, war jene Welt, die sie dem Mitarbeiter beschrieben hatte. Mit einfachen Mitteln und neuer Technik konnte er so ein Level programmieren, das ihre Bedürfnisse besser zu erfüllen versuchte, als sie damit gerechnet hatte. Die Weste, die Handschuhe, der Ventilator und die schier endlose Größe der Halle taten ihr übriges. Es vergingen kaum einige Minuten und ihr Bewusstsein hatte sich schon an die neue Umgebung hinter ihren Augen gewöhnt. Die Brille war ein neues Modell. Leichter und bald schon völlig vergessen, als sie an ihrem Kopf befestigt war. Das Gesamtpaket ließ nicht zu wünschen übrig und verriet auf eindrückliche Weise, wo die Entwicklung die kommenden Jahre hingehen würde.  

Sie zog sich aus. Taste mit zitternden Fingern nach dem Reisverschluss der Weste, zupfte sich die Handschuhe von den Händen und wischte sich die gerade trocknenden Tränen aus dem Gesicht. Sie war immer noch völlig perplex als der Mitarbeiter kam und sie von der Konsole befreite, um sie sicher wieder aufzuräumen. Der Prototyp war kein einfaches Spielzeug mehr. Er war die neue Generation an Entertainment. Technik auf dem neusten und teuersten Stand und doch auch hier bald schon wieder veraltet und überholt. Jedenfalls war dieser Computer mit Verantwortung zu genießen. Es konnten die unvorstellbarsten Welten programmiert werden. Ganze Galaxien, die durchquert werden konnten. Fremde Planeten, Länder, Orte, die erkundet werden wollten. Geschichten, die erst erfunden werden mussten. Aber ebenso Vertrautes, das sich algorithmisch aus den Erinnerungen der jeweiligen User erstellen ließ.  

Na, wie geht es dir? Hat es dir gefallen? Möchtest du etwas trinken?“, fragte der Mitarbeiter vorsichtig, während er bedächtig auf sie zu kam. Er hatte die Simulation am Bildschirm verfolgt und immer da eingegriffen, wo das Bild nicht vollständig war. Sie hatte von all dem nichts mitbekommen, da es sich primär im äußeren Bereich ihrer Wahrnehmung abspielte und sie viel zu sehr damit beschäftigt war, gedanklich abzudriften. Der Mitarbeiter hatte ihre Simulation nicht manipuliert. Vielmehr versuchte er sie so zu programmieren, wie es ihren Bedürfnissen und weniger ihren Erwartungen gerecht wurde. Das Ergebnis war eine unerwartete Auseinandersetzung mit dem Tod durch einen letzten Schritt über den Abgrund. Über einen einzigartigen Moment an der Schwelle zum Lebensende und darüber hinaus.  

„Danke, ja. Danke… Mhm, ja Wasser. Danke…“, stotterte sie unbeholfen, aber allmählich wieder zurück. Sie war gerade eben gestorben. Zwar nur in einer Simulation, doch diese Erfahrung hatte ihren Eindruck hinterlassen und klang noch lange nach. Vorsichtig schritt sie aus der Mitte. Tastete mehr, als dass sie lief und zog sich an den Rand der Fläche zurück, um sich an eine der Wände zu lehnen. Vielmehr zu stützen. Sie sehnte sich nach etwas Halt. Versuchte sich an der Wand zu stabilisieren und sank langsam in die Knie. Ihre Augen starrten ins Nichts und verrieten, dass sie wohl tief in ihren Gedanken versunken war.  

Hier, trink das meine Liebe“, flüsterte der Mitarbeiter vorsichtig und setzte sich zu ihr auf den Boden, um ihr das Glas Wasser zu reichen.  

Abwesend, fast fremdgesteuert, greift sie nach dem Glas und trinkt.  

Irgendwann findet sich ihr Geist zurück hinter ihren Augen und richtet seine Aufmerksamkeit auf den Mitarbeiter. Suchend gleitet ihr Blick über ihn hinweg und bleibt an seinen Augen hängen. Er lächelt.  

Willkommen zurück! Lass dir Zeit, es ist geschafft. Gib dir Zeit zu erholen und zu verarbeiten, wo du dich hineingewagt hast. Denn dort wo du warst, war die Mitte deines Unterbewusstseins. Bei jenen Gedanken, die so tief in deinem Geist leben, dass du sie schon fast nicht mehr wahrnimmst, sie aber jeden Gedanken argumentieren, die dir Grund zum Leben geben. Gerade, weil sie dir den Tod vor Augen halten“, flüstert der Mitarbeiter mit sanfter Stimme. Er verstand sich darin, sie vorsichtig ab und zurück zu holen. Auch war er fast mehr Therapeut als Spielhallenbetreiber, denn er wusste offensichtlich sehr genau wohin es einen verschlagen konnte, wenn man seinem Unterbewusstsein die Kontrolle überließ und ein Algorithmus den Rest erledigte. Es schien, als sei es beinahe hierfür ausgelegt. Denn nicht nur sein Talent auf sie einzugehen, sondern die ganze Erfahrung an sich hatte sie stärker mit den Fragen des Lebens konfrontiert, als alles was sie bisher kannte. Als wäre sie wirklich gestorben und mit neuem Bewusstsein wieder geboren.  

Ich weiß nicht, was ich sagen soll“, entweicht es zart ihren Lippen. „Ich…“  

"Ruhig, ruhig.“ Er streicht ihr sanft über die Schulter. „Das kann einen schon umhauen, was da heute so alles möglich ist. Zumal du dir auch gleich die ganz großen Fragen sehr lebhaft vorgenommen hast“, schmunzelt er, während er sich neben sie an die Wand lehnt und genau wie sie ins Leere schaut.  

„Es ist nur, … es… es ist so real. Es ist so intensiv. Ich war so überwältigt von den Gefühlen, dass ich völlig in meiner Simulation aufgegangen bin und vergessen habe, dass dies nicht die Realität war. Und das obwohl diese Erfahrung alles in den Schatten stellt, was ich bisher gefühlt habe. Ich war sicher, ich würde sterben, und nun sitze ich hier. Und ich kann nicht glauben, dass das alles nur ein Spiel war“, bricht es irgendwann aus ihr heraus, genau wie die Tränen aus ihren Augen. Sie schluchzt. Vergräbt ihr Gesicht in ihren Armen und weint den Schmerz über ihr eigenes Wiederauferstehen. Sie hatte es beendet. War entschlossen. Sah ihr Leben an sich vorbeiziehen und nun saß sie da. In einer kühl wirkenden Halle, allein mit einem Fremden auf dem Boden sitzend und heulend. In ihrem Kopf herrschte Verzweiflung. Zweifel daran, am Leben zu sein, Zweifel daran gestorben zu sein. Zweifel daran, jetzt in der Realität zu sein. Woher konnte sie wissen, dass dies, wo sie nun, war wirklich war?

Ich möchte dich etwas fragen“, klingt es behutsam an ihr Ohr. „Was ist Realität für dich? Denn dein Bewusstsein kann sich sehr leicht über das hinwegtäuschen, was wirklich ist. Es ist nur eine Frage der Zeit und der Intensität und dein Bewusstsein fühlt sich in jedem Zustand wie Zuhause. Du hast dich in deinem Spiel dazu entschlossen, zu springen. Nicht, weil du es ausprobieren wolltest, sondern weil du bereit warst, zu gehen. Du hast alle deine Gedanken zu Ende gedacht. Hast gelächelt und bist gegangen. In vollem Bewusstsein darüber, dem Tod somit gegenüber zu treten und zu umarmen. Was ist also die Realität wirklich?“ 

Sie wischt sich die Tränen aus den Augen und seufzt. „Das ist ja genau das, was mich gerade so verwirrt. Wie soll ich nun weiterleben. Ich habe alles gehen lassen, was mich noch beschäftigt hat. Habe Frieden gemacht mit allem, womit ich in Konflikt stand und habe mich bedankt für alles, was mein Leben mir beschert hat. Und nun, was jetzt? Es war alles nur ein Traum und dennoch habe ich mich lebendiger gefühlt als in meiner Realität. Das ist… ach… ich weiß nicht, was ich sagen soll, mir fehlen die Worte, um auch nur annähernd die Begeisterung und gleichzeitige Enttäuschung zu beschreiben, die ich im Moment empfinde. Das ist alles andere als das, was ich erwartet habe, als ich den letzten Schritt machte.“ 

„Ich verstehe, doch ist es nicht so, dass eben beide Realitäten deine Wirklichkeit bilden? Bist du nicht das Sein, das sich in beiden Welten bewusst wird? Das die Erfahrungen macht, über denen es gerade eben verzweifelt? Denk daran, letztlich ist dieses Dasein das eigentliche Mysterium dieser Welt. Die Tatsache, dass da etwas ist, das denkt und fühlt, hofft und weint. Lacht und eben manchmal auch verzweifelt. Und dieses Dasein sitzt gerade auf dem Boden, nachdem es die Erfahrung des Todes gemacht hat und nicht versteht, warum es anders gekommen ist, als erwartet. Doch es kommt immer anders, als man es erwartet, das ist ja das Magische an diesem Dasein, es ist frei und macht, was es will, ohne anderen Erwartungen gerecht zu werden. 

Das, woran du also gerade verzweifelst, ist dein eigener freier Wille, der dich darüber hinweg enttäuscht hat, dass du gestorben bist“, erklärt der Mitarbeiter mit ruhiger Stimme. Er hatte zwischenzeitlich einen Arm um sie gelegt und ihr war es nicht unangenehm. Sie fühlte Halt und gab sich ganz seiner Geborgenheit hin. Wie eine beschützende Hand führte er sie zärtlich durch ihre inneren Dämonen. Die Zweifel an der Existenz, der Bedeutungslosigkeit ihres Todes, die Ohnmacht zurück ins Leben geworfen zu sein und allmählich auch zurück an die Oberfläche ihrer Gedanken.  

Woher weiß ich, was real ist?“, fragte sie irgendwann.  

„Du weißt es nicht. Wirst es auch nicht wissen können. Denn ehe du dich versiehst, kommt es anders, als du dachtest. Das ist bedauerlicherweise die einzige Antwort, die ich dir hierauf geben kann. Doch ist es möglicherweise auch gar nicht so wichtig zu wissen, was real ist und was nicht. Sobald es für dich real ist, ist es wirklich. Und dann verändert es dein Leben auf die ein oder andere Weise. Denn ob du es glaubst oder nicht, deine Erfahrung hat nur vier Stunden gedauert. Sicher, das hört sich erst mal lang an, doch was du in dieser Zeit alles erlebt oder vielmehr überlebt hast, ist unbeschreiblich und manche erfahren dies ihr ganzes Leben nicht. Und so verhält es sich mit allem in deinem Leben, selbst den Dingen, die du kaum bemerkst, weil sie ständig in deinem Alltag sind. Sie prägen dich, verändern dich. Jeden Tag ein bisschen und manchmal auf einmal komplett“, gibt er nach kurzem Stirnrunzeln ihr zur Antwort.

 

Er war wirklich ein bemerkenswerter Mensch. Jemand, den sie niemals hier erwartet hatte. Aber was dachte sie da, schließlich war nichts von dem, was hier passiert war, erwartet und dennoch schien es ihr Leben auf den Kopf gestellt zu haben. 

Vorsichtig dreht sie den Blick in seine Richtung. Gleitet mit ihren Augen an seinem Äußeren entlang. Betrachtet seine Haare, die feinen Gesichtszüge. Die Augen in denen so viel grünliche Klarheit schimmerte, wie das Wasser eines Sees weit oben im Gebirge. Und dem völlig deplatzierten Namensschild auf der Mitte seiner Brust. Yuzasaf war drauf zu lesen. Zwar kannte sie den Namen nicht, doch bemerkte sie eine eigenartige Vertrautheit bei dem Klang, den sie sich im Innern vorsagte.  

Und das, obwohl es alles nur eine Simulation war…“, murmelt sie gedankenabwesend.  

„Das ist richtig. Und dabei ist das erst der Anfang. Es ist nur eine Frage der Zeit. Vielleicht der nächsten Jahre, und es wird dir nicht mehr möglich sein, den Unterschied zu erkennen. Es wird sich realer anfühlen, als die Realität. Einfach, weil es dir ermöglicht, in die Tiefen deiner Kreativität abzutauchen und das zu erschaffen, was dich am meisten beschäftigt. Dabei begegnen wir diesem so unverfälscht, wie es deine Fantasie erlaubt. Das führt dann mitunter zu diesen jetzigen Momenten, ist aber ebenso der Grund, warum es sich so intensiv anfühlt“, redet Yuzasaf weiter. „Es wird bald eine Zeit kommen, in der die Menschen erkennen werden, dass es um das alles hier nicht geht. In welcher der Weltgeist über sich selbst hinauswächst, erwacht und erkennt, dass er es ist, der die Wirklichkeit erschafft. Ob nun im Spiel oder eben in der angeblichen Wirklichkeit. Doch die Wirklichkeit ist das, was uns wirklich erscheint. Daher wird der Moment, in dem es keinen Unterschied mehr gibt, jener sein, indem das Bewusstsein des Menschen über seine biologische Grenze hinauswächst und erkennt, dass er unsterbliche Energie ist. Das Sein in allen Realitäten, in allen Wirklichkeiten.“ 

„Aber wenn das schon in den nächsten Jahren der Fall sein wird, warum können wir das nicht jetzt schon erkennen? Warum stellen wir uns dieser Wahrheit nicht einfach?“, fragt sie ihn forsch, während sie die Bilder an Gewalt nicht aus den Gedanken verdrängen kann.  

Erinnerst du dich an das Videospiel „Matrix“ aus dem Jahr 2003? Stell dir vor, sie würden es neu aufarbeiten und für die neue VR zur Verfügung stellen. Sie würden es also überarbeiten und alles auf die entsprechende Bedienung anpassen. Stell dir nun vor, du würdest dieses Spiel spielen. Wärst du dann wirklich in der Matrix? Und was, wenn du in der Matrix aus der Matrix gehst, bist du dann in einer anderen Matrix? Kommst du jemals wieder aus der Matrix heraus? Denn selbst wenn du die VR abnähmest, alle Erfahrungen, die du gemacht hast, während du die Brille aufhattest, waren für dich genauso real wie ohne Brille oder sogar noch realer“, kicherte Yuzasaf und fuhr fort. 

Du siehst wo das hinführt. Denkst du diesen Gedanken zu Ende, kommst du wieder am Anfang raus. Das ist wie mit fraktaler Geometrie. Die Geometrie der Natur und nebenbei auch die von Videoanimationen. Je weiter du also raus schaust, desto tiefer gerätst du hinein und letztlich, und das ist die wahre Erkenntnis, kommst du niemals hier raus. Sodass du also irgendwann dafür Verantwortung übernehmen musst, was du dir aufgrund von Zwang alles zuschulden hast kommen lassen. Und solange du das nicht kannst, bleibst du gefangen auf die ein oder andere Weise. Und das fällt schwer zu akzeptieren. Die Intelligenz in diesem Universum ist frei und du bist der Wille. Sei also der freie Wille in jeder Wirklichkeit, jeder Realität, die du nur ausdenken kannst, denn am Ende kommst du hier ohnehin nicht lebend raus oder tot oder überhaupt. Am Ende zählt nur, dass du deinen eigenen Weg gegangen bist, um mit einem Lächeln von einer Welt in die andere überzugehen.“  

Damit stand er auf und stellte sich vor sie hin. Reichte ihr seine Hände und half ihr hoch.  

Danke“, klingt es kaum hörbar aus ihrem Mund, während ihre Gedanken viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt waren, um sie wirklich anwesend sein zu lassen. Sie steht vor ihm. Er legt seine Arme um sie und schließt sie fest an sein Herz. Sie spürt die Wärme, die Energie, die Liebe von ihm, die in ihr Herz trifft und von innen heraus erfüllt. Als sie sich nach einer kleinen Ewigkeit aus seinem Arm löst, blickt er sie mit feuchten Augen an.  

„Ich liebe dich, weißt du. Du bist etwas Besonderes und so wie es dich an meine Türe getrieben hat, wird es dich auch zu deinem Ziel bringen. Lass dich treiben, fließe wie freie Energie und bleibe dir selbst treu. Denn du schwingst in der Vibration der Liebe und das ist es, was wahre Liebe ist, die Schwingung, die Vibration des reinen Glücks.“ 

Yuzasaf begleitete sie noch zur Türschwelle. Es war spät geworden. Die Nacht lag kühl über der Welt und die Sterne wie der Mond funkelten in fast greifbarer Nähe am Firmament. Alles wirkte so viel klarer, intensiver, realer. Das Leben war krass. So viel krasser als alles, was sich der einzelne Mensch je ausdenken könnte. Das Leben selbst war die Liebe, die in jedem Detail steckte und mit göttlicher Ausdauer immer wieder neue alte Kerzen zu neuem Licht entfachte. Zum Abschied nahmen sie sich ein letztes Mal in den Arm und fühlten noch lange die Wärme des anderen auf der eigenen Haut. 

Sie war verliebt, doch nicht nur in ihn, vielmehr in das, was er ihr gezeigt hatte. Er hatte ihr die Augen geöffnet und sie verwirrt und irritiert zurück gelassen. Doch ebenso mit neuer Energie, neuer Begeisterung und endlich einem Plan. Sie wollte die Welt retten, zumindest ihre eigene.  

Zu guter Letzt dreht sie sich ein endgültiges Mal um. Winkt und lächelt, atmet tief und geht in die Dunkelheit der Nacht. Sie würde seinen Namen nachschlagen dachte sie sich. Sie würde an ihn denken. Und sie würde ihn für immer im Herzen tragen. Dort, wo seine Liebe auf ihre traf und sie von neuem entfachte, als sie es am wenigsten erwartete.