Über Alltagsfantasien

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“Und sie dreht sich doch. Ein Jahr ums andere. Tag für Tag, immer und immer wieder um die eigene Achse mit 1.670 Kilometern pro Sekunde.” 

Sie seufzte während sie diesen Satz las. Sie saß in der U-Bahn auf ihrem Weg nach Hause. Der Tag war lang. Sie hatte den ganzen Tag gearbeitet und wollte nur noch in die eigenen vier Wände. Erschöpft zwängte sie sich wie all die anderen in die Bahn und fand sich in einem Abteil für vier Personen wieder, einem Mann gegenüber, der ein Magazin aufgeschlagen und mit verschränkten Beinen vor ihr saß. Sein Gesicht versteckte sich hinter dem Artikel, den er las und ragte nur bei gelegentlichen Fahrbewegungen der Bahn bis zum Haaransatz über die Kante. 

Der Satz stand auf der Rückseite jenes Magazins und fand sich irgendwie zwischen ihren Kopfhörer in ihren Gedanken wieder. Da saß sie nun. Wie weitere vier Mal in der Woche. Mit halberloschenen Augen. Gedankenverhangen und gedachte der Tatsache, dass die Erde, auf der sie sich hier jeden Tag von A nach B bewegte, ständig im Kreis drehte und dabei auch noch schneller war als der Schall. Wo sollte das hinführen? Gab es da je etwas anderes, als ständige Wiederholungen des Gleichen? 

Als würde die U-Bahn, in der sie fuhr, beständig im Kreis rotieren. Wie ein Kreisel immer um die eigene Achse. Erneutes Seufzen. Hand aufs Herz, sie endete ihren Tag mit diesem Fahrzeug genau wie sie ihn begann. Als sie so darüber nachdachte, schien ihr das Ganze ohnehin wie ein einziges Wiederholen von Alltagssituationen. 

Kopfschütteln. Sie wandte den Blick ab. Versuchte im Vorbeifahren der Straßen etwas Halt zu finden und verlor sich in Träumereien. Ihr war, als ob es tausend Straßen gäbe, doch hinter tausend Straßen keine Welt. Wo war sie, die Magie, die ihre Welt als Kind so erfüllte. Die Fantasie, die aus Glühwürmchen Elfen machen konnte und in Kissenburgen ganze Königreiche erschuf. Wo der Sinn, der jeden Morgen das Gefühl verlieh, dass es noch so viel zu erleben gab, noch so viel, dass selbst der Schlaf zweitrangig wurde. Bis zu jenem Moment, wenn er dann seinen Tribut mit sanfter Hand und erholsamer Energiezufuhr einforderte. Nicht wie heute, wenn sie fast jede Nacht aufwachte, wackelig durch die Wohnung tapste und nach einem Wasser griff, um dann wieder ins Bett zu stürzen und halb benommen weiter zu dösen. Erholsam war das nicht, ganz zu schweigen von Energie bringend. 

Was mache ich eigentlich hier? Sie drehte den Blick weg vom Fenster und richtete ihn erneut auf den Mann, der immer noch unverändert da saß. Er hatte zwischenzeitlich die Seite umgeschlagen, doch sonst hatte er sich genau so wenig verändert wie der Rest der Bahn. Alle hingen sie irgendwelchen Gedanken hinterher. Starrten auf ihre Bildschirme oder blickten mit gleichgültigen Augen Löcher in die Luft, während sie sich, genau wie sie selbst, mit ihren Kopfhörern abschotteten. Mittlerweile sah man auch vermehrt den Versuch, diese Abschottung durch einen Mundschutz voran zu treiben. Der Pragmatismus trieb die Isolation des Individuums auf die Spitze. So als hätte er eine… 

Auch hier klopfte eine bekannte Frage erneut an ihr Bewusstsein. Wo sollte das hinführen? 

Wie dem auch sei, in all der vermehrten Sinnschwäche, die ihr hiermit bewusst wurde, schien der Mann mit seinem Magazin irgendwie eine Ausnahme. Nicht nur wegen dem, was er las, sondern vielmehr deswegen, weil er nicht den Eindruck vermittelte, irgendwo hinzuwollen. So als säße er aus reinem Vergnügen in der Bahn, mitten in der Rush Hour um das Feeling zu erleben. Der Gedanke brachte sie zum Schmunzeln. Sie fand die Vorstellung albern, doch auch gerade deswegen so unerwartet. In Gedanken musste sie kichern. Sie musterte ihr Gegenüber weiter. Erkannte die ein oder andere Auffälligkeiten, schien im Großen jedoch nicht weiter beeindruckt und verlor sich erneut in den Bildern vor ihrem inneren Auge. 

Gab es da noch mehr? Mehr als diese U-Bahn und das tägliche von A nach B und wieder zurück? Mehr als Job machen, Haus bauen und Familie gründen? Oder war es Familie gründen und dann Haus bauen? Eine weitere Sinnschwäche traf sie am Hinterkopf und löste eine Erinnerung in der Tiefe ihres Unterbewusstseins aus. Nicht dass sie etwas gegen ein Eigenheim oder eine Familie gehabt hätte, aber die Welt um sie herum erweckte nicht unbedingt ein tiefes Vertrauen in die Zukunft innerhalb ihres Brustkorbes. Keine wirkliche Perspektive, in die man Verantwortung und ein Kind setzen will. Zumal sie selbst nicht den Eindruck hatte, bereits der Kindheit entwachsen zu sein. Ihre Routinen hatten sich so sehr in ihr Leben eingewoben, dass sie nicht mehr unterscheiden konnte, wie eigentlich sie „Selbst" in all jenen „Ich bin eben so’s“ war. Oder wer

Wer war sie? Und warum war das wichtig? Wer sie war, das kannte sie auswendig. Unzählige Steckbriefe und peinliche Vorstellungsrunden in überfüllten Klassenzimmern später war sie sicher, sie war jemand! Jemand unter Jemanden. Schließlich waren alle Jemand. Hatten ihre Vergangenheit und die Höhen und Tiefen, die sie zu dem machten, wer sie heute waren. Doch danach wurde nicht gefragt. Name, Alter und beruflicher Werdegang, vielleicht noch Hobbys, wenn die Zeit reichte, waren das einzige welchem Interesse galt. Klar, wenn man einem Menschen die ganze Gefühlswelt abspricht, bleibt nicht mehr viel übrig, über das es sich zu erzählen lohnt. Dann definiert sich das Individuum als Karteikarte unter Karteikarten in einem Kasten voller Karteikarten, an dessen Ende ein genervter Beamter sitzt, der aus einem weiteren kalten Kasten blickt und sich genauso bedeutungslos fühlt wie die ganze sinnlose Lernerei in der Schule. 

Das einzige, das aus ihrer Schulzeit wirklich hängen geblieben ist, war: „Hör auf zu Träumen!“ Nicht nur im übertragenen Sinne. Zeitweise war das der tägliche Befehl an ihre Schulbank, wenn sie sich so wie jetzt ihren Tagträumen hingab. Doch zu jener Zeit hatten ihre Träume mehr Fantasie. Waren weniger wortreich und hatten mehr Farbe. Das Schubladensystem, in das sie hineingewachsen war, verhinderte das strahlende Licht einer schöpferischen Energie aus der Tiefe ihres Herzens, oder was davon noch übrig war. Sie erinnerte sich, wie sie anfangs noch dagegen anzulachen versuchte. Als Kind schien es ihr seltsam, die Welt in Schubladen zu verpacken. Wenn erst mal alles eine Schublade hat, in der es steckt, wo bleibt dann da die Fantasie? Doch auch das Lachen wurde irgendwann nicht mehr gestattet. Primär über dreizehn Jahre täglich von 7.30 Uhr bis 16 Uhr und dann während der Hausaufgaben und im Studium und ach ja, bei der Arbeit, in der Bahn und eigentlich überall, wo sie ihr Leben verbrachte. 

Die Welt lachte zu wenig, atmete zu viel, war gestresst und panisch. Familie und Haus? Wofür? Eine Hoffnung klammert sich daran, dass dann alles gut wird. Endlich erhält der Tag mehr Bedeutung. Das Ganze macht nun scheinbar Sinn. Doch während der Versuch, eine gesunde und harmonische Familie zum Wachsen zu bringen, die ohnehin schwachen Energiereserven anzapft, drückt die Welt um einen herum beständig und immer wieder in die eigene Privatsphäre ein und öffnet so dem Pudel die Tür. Dann stehen sie im Wohnzimmer, die Missverständnisse, rauben einem die Luft im Schlafzimmer und vergiften das Klima am Frühstückstisch. 

Die spontan mechanischen Bewegungen um sie herum zerrten sie aus ihren Gedanken. Die Bahn fuhr auf eine Haltestelle zu. Die Menschen standen synchron und wie fremdgesteuert auf. Alle. Alle bis auf den Mann ihr gegenüber. Er schien weiterhin tief in sein Magazin versunken zu sein und so das ungewöhnliche Schauspiel um sie herum nicht zu bemerken. Die Bahn kam zum Stehen. 

Nichts geschah. Niemand bewegte sich. Keine Geräusche, keine aufgehenden Türen und hektisch aus- und einströmende Menschen. Keine Veränderung. Die Szene wirkte wie pausiert. Jeder Fahrgast war aufgestanden und in der Bewegung stehen geblieben. Die Augen leer und auf Dinge gerichtet, die sie nicht sehen konnte. Bilder, die irgendwo in der Weite fremder Geister verborgen lagen. 

Plötzlich legte der Mann das Magazin auf seine Beine und richtete den Blick auf sie. Die unerwartete Bewegung riss ihre Aufmerksamkeit sofort auf ihn. Ein Gefühl von Panik gemischt mit Dankbarkeit darüber, nicht allein zu sein, stieg in ihr auf. Drückte von innen gegen die Brust und kroch ihre Kehle hinauf. 

Seine klaren Augen waren direkt auf sie gerichtet. Mit ruhendem Blick nahm er jeden ihrer Atemzüge wahr. Sah jede Bewegung in ihr, jede Schwingung, jeden Gedanken. Sie spürte wie das Gefühlsgemisch in ihrer Kehle einen Weg nach oben gefunden hatte. Sie fürchtete sich, wollte sich nicht blamieren. Nicht schwach wirken. 

Sie kicherte. Erschrocken über das Geräusch aus ihrem Mund verlor sie die Kontrolle und lachte. Lachte, bis ihr die Tränen aus den Augen strömten. Der Mann schmunzelte, nickte und stieg in ihr Lachen ein. Die Situation strotzte vor Surrealität. Sie konnten nicht aufhören zu lachen. Alles an ihrer Situation schien völlig unlogisch, albern und beängstigend. Etwas in ihrem Herzen wusste, es gab nichts, das sie tun konnte. Nichts außer über die Ausweglosigkeit ihrer Situation zu lachen. 

Irgendwann legte sich das Lachen und wich einem zufriedenen Grinsen. Sie betrachteten sich. Schmunzelten über die Hemmungslosigkeit des  Gesichtsausdruck des anderen. Bewunderten die Klarheit der Augen des Gegenübers. 

„Ich danke dir“, drang es mit der Sanftheit liebevoller Zärtlichkeit an ihr Ohr. 

„Danke wofür?“ 

„Ich weiß, dass du gerade eine chaotische Zeit in deinem Leben hast. Ich sehe es dir an. Doch da steckt etwas Großes in dir, das bereit ist. Allmählich sucht es sich den Weg durch das Labyrinth an Schubladen, in das es gesteckt wurde. Allerdings sehe ich auch, wie es sich beständig gegen diese Schubladen behauptet. Erhebt und nach Höherem fragt. Jenem Höheren, das man den Willen nennt. Jener Wille, der schon so viel großes auf dieser Welt verändert hat. Die Fantasie ist stark in dir. Schau dich an, schau mich an, schau dich um.“

Da bemerkte sie es. Der Mann vor ihr sah aus wie ein Magier. Zwar trug er Jeans, Jacke und Sneaker, doch auch umgab ihn eine mystische Aura. Als seien die Kontraste, die ihn aus dem Hintergrund hervorragen ließen, mit der Tiefenschärfe einer Spiegelreflexkamera aufgenommen worden. Außerdem hatte er diese vielen kleinen Details. Ein Kristall an seinem Hals. Sein Gesicht. Seine Haare, doch vor allem diese Augen. Augen, die mit der Güte der Allgesehenheit auf einen blickten und einem jedes Gefühl von Kälte rauben konnten um nur Wärme zurückzulassen. Um sie herum war die Welt verschwommen. Die Gestalten, die noch bis gerade eben neben ihnen standen, waren zu schemenhaften Schatten verlaufen und ließen sie in einem grau-schwarzen Meer zurück. Doch hier und da blitzten immer wieder kleine Lichter zurück aus dem Dunkel. Und da war sie. Sie richtete den Blick auf sich. Ein einziges Strahlen in der Form ihres Körpers. Fließende Energie, verschiedenste Strömungen und Lichter in den wahren Essenzen jener Farben, die sie sonst nur wie hinter trübem Fensterglas wahrnahm. 

„Die Antwort, die du suchst, liegt in dir. Du findest sie in deiner Fantasie. Denn ob du es glaubst oder nicht, die Fantasie ist das, was den Fortschritt voran schreiten lässt. Alles andere ist bekannte Gewohnheit. Egal, in welcher Schublade du dich verloren hast, deine Fantasie kennt den Ausweg. Du musst es nur wollen und willst du nicht, findet sich hierfür schließlich auch eine Erklärung. Doch Erklärungen sind nichts als weitere Schubladen. Daher vergiss nicht zu lachen, wenn alles am Dunkelsten ist. Lachen ist das Licht deiner Fantasie, wie die Sonne für die Pflanzen. Pflege sie, sprich mit ihr und gib ihr genug Licht und sie wird dir die Welt zeigen, wie sie ist.“ 

„Was bedeutet, wie sie ist?“ 

„Die Welt ist Geist. Alles um dich herum findet in deinem Geist statt. Denn deine Wahrnehmung entscheidet darüber, wie du die Welt siehst, in der du dich bewegst. Doch nur weil ein Gedanke deine Perspektive auf die Welt beeinflusst, muss das nicht bedeuten, dass er wahr ist. Die Welt steckt voller Gedanken, voller Geister, voller Fantasien. Es ist deine Einstellung, die darüber entscheidet, welche du davon wahrnimmst und wie viele. Und das ist, was die Welt ist. Hast du dir schon mal die Frage gestellt, warum „Ich“ das einzige Wort ist, dass du nur zu dir selbst sagen kannst, warum ist das wohl so?“, schmunzelte der Fremde verschwörerisch und nahm das Magazin erneut vor sein Gesicht. Mit einem letzten Zwinkern verschwand er hinter den Seiten und ließ sie verdutzt zurück. 

Plötzlich schärfte sich das Bild um sie herum und die Bewegung kam zurück. Die Bahn hatte tatsächlich gehalten, doch wie es schien, musste nur sie aussteigen. Als sie dies realisierte, sprang sie auf und eilte zur Türe. Sie begriff nicht, was gerade eben geschehen war, doch vermutete sie im Halbschlaf beinahe ihre Haltestelle verpasst zu haben. Draußen begrüßte sie die kalte Luft und eine Welt, die sich verändert hatte. Die Dinge um sie herum wirkten in einem anderen Licht und irritierten sie durch ihre Andersartigkeit. So bemerkte sie die Bewegung hinter sich zu spät und zuckte zusammen, als sie seine Stimme im Vorbeigehen hörte. Ruckartig drehte sie sich, traf blickartig seine Augen. Er schmunzelte.

„Sei nicht zu hart zu dir, das Leben ist gut und es gibt viel zu entdecken!“, flüsterte er im Vorbeigehen, blickte sie ein letztes Mal an und zwinkerte. In seinen Augen, die mit der Güte der Allgesehenheit auf sie blickten und ihr jedes Gefühl von Kälte raubten.

Staunend blickte sie ihm hinterher. Sie war verwirrt, doch kitzelte die Erinnerung an das gerade Erlebte ein Lächeln in ihr ratloses Gesicht. „Danke“, murmelte sie abwesend, während sie mit den ersten Gedanken davon driftete. Sie stand noch eine Weile wie angewurzelt da. Dann begann sie zu schmunzeln. Vor ihr sah sie ein kleines schwaches Lichtlein in der Luft. Es blinkte immer wieder und flog mit den sanften Wogen des Windes allmählich davon. Wahrscheinlich ein Glühwürmchen, ging es ihr durch den Kopf. Ein Glühwürmchen oder eben doch eine Elfe. 

Luca Merkle