Eine runde Geschichte

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Drei Geschichten. Alle aus dem Leben. Alle in einer Welt die wahrhaft und doch erfunden ist. Der Blick in die Perspektive eines anderen Augenblickes im Zusammenspiel einer großen Erzählung.


Alles ist Theater, alles ist Schauspiel. 

Er steht hier. Schon über ein Dutzend Jahre. Jeden Tag wie ein treuer Zugbulle verbringt er die Zeit seines Lebens an diesem Ort. Bietet sein Handwerk an, während das Schauspiel vor seinen Augen eine Vorführung nach der anderen zeigt. Jeden Tag das Gleiche und doch immer wieder individuell. Jeder Tag ist einzigartig. Jeder Tag bringt etwas, das aus dem Hervorgegangen herausragt. Die Kunst ist es zu entdecken. Jenes obliegt nur jenem, der Geduld hat und sich nicht von täglichen Verwirrungen ablenken lässt. 

In seinen Augen spielt sich ein vollkommenes Drama nach dem anderen ab. Sodass am Ende eine große Komödie steht. Er sieht wie sich die Gesichter ändern. Die Merkmale, die alles persönlich machen. Doch sind es die Geschichten, die ihn interessieren. Denn die sind stets Wiederholungen einer Wahrheit, die sich im Einzelnen nicht finden lässt, weil sie sich erst aus unzähligen zusammensetzt.  

Er ist ein Gott. Der Schöpfer eines Universums, das er am besten kennt und sich dennoch immer wieder davon überraschen lässt. Weil er offen ist. Offen für den einen Augenblick. Den einen Moment, der anders ist als die vorangegangenen. Mittlerweile hat er sich auf seinen Stuhl gesetzt. Vor ihm präsentieren sich silbern glänzende Welten. In ihnen reflektiert sich das Licht der Sonne und taucht die Fläche in ein funkelndes Meer aus Edelmetallen. Jedes ist ein Einzelstück. Gefertigt aus Liebe und Zuneigung zu einer Sache, die im Moment der Entstehung all seine Energie und Aufmerksamkeit verdient. Sein Geschenk an eine größere Wahrheit. Sein Geschenk an das Universum, das ihn selbst hervorgebracht hat. Eine Opfergabe, eine Danksagung.  

Gerade liegt eine runde Geschichte in seiner Hand. Wechselt hin und wieder den Finger, an dem sie sich befindet und wird sorgsam poliert. Jede weitere Umdrehung in seinen Händen versetzt ihr ein bisschen mehr Glanz. Jeder Hauch etwas mehr Magie. Irgendwann ist er fertig. Greift nach einem Gegenstand, einem Werkzeug, mit dem er etwas in sie hinein ritzt. Eine neue Strophe, die davon erzählt, was sich hinter seinen Augen abspielt.  

Was er sieht, hat seine eigene Wahrheit. Tägliche Ströme wiederkehrender Muster. Daten, die an seinem Standort vorbeifließen und das große Ganze am Leben erhalten. Doch auch Daten, die er schon unendliche Male beobachtet hat. Muster, die sich schlicht wiederholen, damit sie übersehen werden können. Für ihn geht es schon lange nicht mehr um das Alltägliche. Seine Augen sehen durch den Hintergrund hindurch. Suchen etwas anderes in dem Meer aus Wiederholungen. Und oft finden sie es. Oft jedoch offenbart es sich nur dem, der einen ruhigen Blick hat, einen Blick fürs Detail. Ein Blick für versteckte Individualität, die sich zaghaft, aber voller Mut zwischen Gleichendem hervorwagt und sich ausprobiert, ohne zu sehr ins Detail zu gehen.  

Was er sieht, verewigt er. Er ist ein Gott, der die Geschichten niederschreibt. Der sie erkennt und sie um seine eigene Welt erweitert. Und dann? Dann ist nichts. Das war es schon. Mehr kann er nicht machen. Mehr übersteigt seine Macht. Was nicht heißen soll, dass es nicht mehr gibt. Denn gelegentlich treibt es neben dem Strandgut einen anderen Gott an seine Ufer. Einen anderen Geschichtensammler. Plötzlich, wie aus dem Nichts, steht er dann vor ihm. Bewundert die Welten, die sich beiden nun auftun. Und betrachtet das ein oder andere Sammlerstück. Verliert sich in den einzelnen Strophen und tauscht sie gegen eine von den eigenen ein. Zwei Schöpfer, die sich erkennen. Die durch den Vorhang der Pupille ein Universum entdecken. Eines, das sich im anderen wiederfindet und gleichzeitig neue Perspektiven auf eine gemeinsame Welt wirft, aus der sich beide heraus begegnen.  

Und so spielt es sich ab. So läuft es schon immer. Es gibt nichts neues unter der Sonne. Nur Wiederholungen ein und desselben Schauspiels, das sich erst im Detail für denjenigen individualisiert, der eine persönliche Perspektive kreiert.  

Ein Gott, der seine eigene Welt erschafft. Ein Geist, der frei in ein Meer aus Informationen blickt und darin Muster erkennt und gelegentlich einen anderen Geist.  

Der Kaninchenbau 

Die Welt spiegelt sich in ihren Augen. Gesichter, die wie Wolken an ihr vorbeiziehen und Schatten auf sie werfen. Blicke, die sich in ihr Bewusstsein bohren und sie in Zweifel ziehen. Sie lächelt. Ihre Schönheit ist die Antwort auf den Druck, der gegen sie hält. Die Fassade eines schüchternen Sterns, der das eigene Funkeln noch nicht gänzlich gefunden hat. Im Strudel von Verurteilungen fällt es schwer, sich auf das Selbst zu konzentrieren. Die Sorge, etwas zu verpassen, zwingt sie nichts aus den Augen zu lassen. Nichts außer ihrer eigenen Zukunft.  

Doch ebenso ist die Welt da draußen für sie eine Bühne. Mit dem Fuß vor der Türe betritt sie ein Universum, in welchem sie sich darstellen kann. Spielen kann, wonach sie sich fühlt. Ohne die Last des Vorangegangen, solange bis sie wieder einer dieser Blicke trifft. Einem, dem sie nicht standhalten kann, da er sich mit stechender Kälte in ihren Rücken frisst und ihr ein Schauer die Wirbelsäule hinunterkriecht.  

Glücklicherweise hat sie für solche Momente ihren Kaninchenbau. Ihre Höhle. Ihre eigene kleine Welt, in der sie frei von äußeren Einflüssen ist, bis auf jene, die sie zu sich einlädt. Immer wenn sie hinter sich die Türe schließt und der Lärm auf den Straßen verstummt, ist sie allein. Doch keineswegs einsam. Ihre Welt ist riesig. Ein ganzes Universum aus unzähligen Abenteuern aus noch unentdeckten Geschichten. Und einem Kaninchen.  

Wohin ihr Blick reicht, beginnt es zu funkeln. Ein Kosmos aus Sternenstaub, der das Licht reflektiert und alles in ein unwirkliches Wunderland verwandelt. Hier ist sie frei. Eine Göttin, die sich selbst erschöpft, um hier ihre innersten Lüste zu verkörpern. Man muss nur genau hinschauen. Geschaffen aus den Emotionen eines freien Geistes, der sich hinter verschlossener Tür traut aus sich herauszutreten und spielerisch zu tanzen. Im Wirbel um sich selbst, gebiert sie die Sterne ihres Firmaments und ist glücklich.  

Doch auch hier ist sie nicht immer ungestört. Zu oft stehlen sich die Gedanken des Tages zu ihr. Schleichen in ihr Wunderland und verurteilen sie. Selbst hier. Die Tücke des eigenen Kopfes ist, dass man ihn nicht los wird, ohne selbst dabei zugrunde zu gehen.  

Sie schaut sich um. Betrachtet ihre Welt mit zärtlichen Augen. Erkennt sich selbst in allem, was sie gezaubert hat. Es ist ein magischer Ort. Viel größer, als er scheint und dennoch so klein, als könnte er in eine Tasche passen. Sie ist es, die hier zaubert. Es ist ihr Reich, über das sie regiert. Eine kleine Welt unter der Welt da draußen.  

Sie schließt die Augen. Hört wie die Stimmen in ihrem Geist leiser werden und lässt sich fallen. Fallen in ein Reich, in der nur noch Stille herrscht. Weit unten, tief in ihrem Innern, ist sie frei. Auch wenn es nur für den Moment ist. Eine Schöpferin, die sich selbst erschöpft und so etwas kreiert, das so viel größer ist als sie selbst. Eine eigene, magische Welt.  

Der Eremit 

Mit spitzen Fingern sucht er in seinem Beutel. Findet nach kurzer Zeit, was er begehrt und legt es bedächtig in einen zerbrechlichen Kokon aus weißem Papier. Dreht ihn vorsichtig in seiner Hand. Legt ihn anschließend zwischen seine Lippen und entfacht mit einer kleinen Flamme das Bauwerk. Er inhaliert tief. Der weiße Rauch strömt durch seine Kehle hinein in seine Lunge. Füllt seine Lungenbläschen und er fühlt den aufsteigenden Rausch in seinem Dasein.  

Die Augen geschlossen, sitzt er da. Zwischen Pflanzen aus aller Welt und kostet den Moment, in welchem er sich gerade befindet. Als er ausatmet, strömt das aus ihm heraus, was das Feuer zurückgelassen hat. Vermischt sich mit der kühlen Luft eines winterlichen Tages und steigt empor in höhere Sphären. Er öffnet die Augen und blickt verträumt hinterher.  

Ein Lächeln breitet sich in seinem Gesicht aus. Schmunzelnd summt er eine Melodie und wirkt abwesend. Dennoch existiert er nur in diesem Moment. In seiner völligen Präsenz. Zwischen Pflanzen aus aller Welt und empfindet Frieden.  

Er sitzt jeden Tag hier. An jedem Tag des Jahres. Etwas abseits. Sodass man ihn suchen muss, wenn man ihn finden will. In der Stille findet er seinen Freund. Spricht gelegentlich mit ihr doch oft genießt er einfach ihre Anwesenheit. Sie ist die Stimme seines Schattens. Immer bei ihm, jedoch nicht immer sichtbar.  

Die Welt, aus der er kommt, ist hektisch. Laut. Zu viele Energien, die ihn ständig hin und herreißen und ihn von seiner Stille trennen. Es fällt ihm schwer im Trubel der Hintergrundgeräusche die eigene Mitte zu finden und das Gleichgewicht zu halten. Irgendwann begann er zu suchen. Einen Platz in der Mitte, aus welcher er nicht mehr hinauswanken konnte. Er fand ihn. Genau hier, wo er nun sitzt. Mittlerweile kannte er alle Pflanzen. Kannte ihre Namen und ihren Charakter. Verstand sich mit allen gut und definierte diesen Ort als sein persönliches Paradies. Eben der schönste Ort auf der Welt.  

Doch auch hier kollidierten immer wieder Welten. Der Zufall trieb Suchende in sein Reich und auch wenn sie es nicht wussten, schauten sie auf ihn herab. Nicht aus Bosheit. Vielmehr weil er dichter am Boden war als sie. Für ihn war diese Perspektive gewohnt. Er hatte sie sich schließlich ausgesucht. Doch war er es müde geworden, sie zu rechtfertigen. Sie würden es ohnehin nicht verstehen, solange sie seinen Blickwickel nicht einnahmen.

Er vermied es seinen Blick auf jene zu richten, die einfach nur an ihm vorbei strömten. Zu oft erwiderten sie ihm Abneigung. Nichts womit jemand dauerhaft umgehen konnte. So beschloss er irgendwann, sich gänzlich aus dem Schauspiel herauszunehmen. Schlicht zu existieren. Ohne einen Gedanken an das, was noch kommen würde, jedoch den Kopf voller Geschichten aus der Vergangenheit. Geschichten, die er mit jedem bereit war zu teilen, der sich die Zeit nahm, zuzuhören.  

Meistens jedoch beschränkten sich seine Zuhörer auf die Pflanzen um ihn, und seinem engsten Freund, der Stille. So saß er schon seit unzähligen Momenten. Sah Gesichter und Welten an sich vorbeiziehen. Und bezeugte allein durch seine Beobachtung die stetigen Bewegungen des Universums, in welchem er lebte.  

Als es allmählich dunkel wird und die ersten Sterne über seinem Kopf erleuchten, legt er sich nieder. Den Blick nach oben das Himmelszelt beobachtend, atmet er tief ein. Seufzt entlastend und murmelt „Der schönste Platz auf der Welt, zwischen Himmel und Erde." An einem Punkt, in einem Moment, der nur für ihn existierte.  

Und während er am Boden liegt, kriecht die Kälte der Nacht zu ihm. Wärmt sich an seiner Körperwärme und macht ihn schläfrig. Sein Schauen gilt einem bestimmten Stern. Einem, den er seit jeher beobachtet, wenn er sich hier zum Schlafen niederlegt. Dick eingepackt in Daunen und Polyester. Einen Stern, der ihn zu beobachten scheint und gelegentlich zwinkert, wenn man nur geduldig genug ist.  

Auch heute sieht ist er sein Nachtlicht. Es leuchtet für ihn und schenkt ihm das Gefühl, Teil einer Gemeinschaft zu sein, die größer ist als er selbst. Er zwinkert, schmunzelt und fühlt sich behütet.  

Gute Nacht.  

Die Kristallkugel

Irgendwo in der Mitte des Universums sitzt er. Einsam. Seine Hände betten sie. Eine Kristallkugel. Das ist alles, was er besitzt. Das ist alles was in seiner Welt existiert. Er und seine Kristallkugel. Seine Zeit ermöglicht es ihm, sich ganz ihn ihr zu verlieren. Sein Blick reicht tief in ihr Inneres und klammert am Licht, das sich in ihr reflektiert. Einem Prisma gleichend zeigen sich die wunderlichsten Farben. Funkeln wie Regenbögen von einer Seite zur anderen und erzählen ihm Geschichten.  

Gedankenlos bannt sich sein Blick Tag und Nacht an das Schauspiel in seinen Händen. Er zwinkert. Tief im Innern seiner Kugel versetzt er sich in einen Lichtstrahl. Folgt ihm und sieht in dort liegen. Einen Eremiten, der eingepackt in Daunen und Polyester auf dem Boden döst und ihn beobachtet. Schwer zu sagen, was er da sieht. Doch wem sollte er es auch erzählen. Er lächelt. Verabschiedet seine Lichtgestalt in den Schlaf.  

Als er den Blick dreht und einem anderen Licht im Innern seiner Kugel folgt, findet er sich in einem Kaninchenbau. Dort dreht sie sich im Tanz um sich selbst. Eine Göttin, die sich selbst erschöpft und dabei eine Welt schafft, in welche er nur zu gerne abtaucht. Ständig entdeckt er etwas Neues. In all dem Chaos gebiert sie Sterne, die ihn funkelnd begrüßen und an seine eigene Geschichte erinnern. Doch auch hier endet für eine weitere Traumsequenz das Theater. Er beobachtet, wie sie sich zum Ruhen niederlegt. Ihre Kreativität ist erschöpft und verlang nach Ruhe. Ihr letzter Blick, bevor sie die Augen für eine weitere Nacht schließt, richtet sich zu ihm. Gilt ihm ganz allein. So wie in jeder Nacht.  

Er lächelt, zwinkert erneut und dreht den Blick einen weiteren Hauch im Innern seiner Regenbogenfarben. Es fällt ihm nicht schwer zu finden, was er sucht. Er kennt seine Kugel in und auswendig. Als er ihn entdeckt, schmunzelt er. Aus dem tiefsten Innern strahlt ihm ein Augenpaar entgegen. Ein Augenpaar, das von einem Tisch hinaufspäht, auf dem sich silbern glänzende Welten präsentieren. Sie hatten sich früh erkannt. Mindestens vor einigen Dutzend Momenten schon. Zwei Geschichtenerzähler, die das tägliche Schauspiel beobachteten, um sich daran zu erinnern, weil es sonst keiner macht.  

Wohlwollend nickt er ihm zu, jenem anderen Gott. Jenem anderen Schöpfer eines ganz anderen Universums, das sie jedoch beide am besten kannten und sich dennoch immer wieder davon überraschen ließen. Weil sie offen waren. Offen für den einen Augenblick. Den einen Moment, der anders ist als die vorangegangenen. In ihren Augen spielt sich ein vollkommenes Drama nach dem anderen ab. Sodass am Ende eine große Komödie steht. 

Jedes ist ein Einzelstück. Gefertigt aus Liebe und Zuneigung zu einer Sache, die im Moment der Entstehung all ihre Energie und Aufmerksamkeit verdient. Ihr Geschenk an eine größere Wahrheit. Ihr Geschenk an das Universum, das sie selbst hervorgebracht hat. Eine Opfergabe, eine Danksagung. Stets sind es Wiederholungen einer Wahrheit, die sich jedoch im Einzelnen nicht finden lässt, weil sie sich erst aus Unzähligem zusammensetzt.  

Genug für heute. Behutsam legt er ein schwarzes Tuch aus Samt über seine Kugel. Bettet sie in seinen Schoß und lässt seinen Blick ein letztes Mal schweifen. Irgendwo in der Mitte des Universums. Umgeben von glitzernden Sternen, leuchtenden Gaswolken, schwarzen Löchern und dem Funkeln unendlicher Galaxien und Welten um ihn herum.  

Eben der schönste Platz den es gibt, irgendwo zwischen Himmeln und Welten.