Über Blattgeflüster

 

Ich sitze auf einer Bank. Die Sonne scheint zur Abwechslung mal, tauscht aber in einem regen Austausch mit den Wolken. Ein Spiel aus Wind und Wetter. Der Tag war lang, einer der längsten diesen Jahres und er wollte sich genauso wenig entscheiden wie ich. Sitzend die vorbeieilenden Massen zu beobachten, ist immer schon mein Hobby gewesen, daher beschloss ich irgendwann aus Unentschlossenheit zu sitzen und zu bleiben. Schwer zu sagen, wie lange schon. Allerdings ist das auch nicht wichtig. Keine weiteren Pläne erfordern meine heutige Aufmerksamkeit.

So sitze ich nun schon eine Weile und versuche Antworten im Treiben vor mir zu finden. Keine großen Antworten, eher so Sachen wie: „Wo kommt der her, wo will die hin.“ Antworten auf nicht ernst gemeinte, aber dennoch unterhaltsame Fragen. Irgendwann jedoch schleicht sich in mir ein Gefühl ein, das ich kenne, wenn ich ein Déjà-vu habe. Ich überlege, ob ich hier schon mal gesessen bin, und versuche mich zu erinnern. 

Ja?  

Nein! 

Ja! 

Nein? 

Ich kann es mir vorstellen, doch es ist unmöglich für mich, mich zu erinnern. Dennoch bleibt dieses seltsame Gefühl. Diese Mischung aus auf-der-Zunge-liegen und Blitzeinfall. Ich krampfe. Vielmehr mein Magen, denn ich weiß, ich bin auf etwas gestoßen, das unbewusst an etwas erinnert und ich nur zu krampfhaft versuche, es herauszufinden. Doch wie so oft hänge ich in meinen Mustern fest. Klammere mich an Vernunft und Überlegung. Gefangen in den Ketten der Norm. 

Loslassen. 

„Entspann dich endlich. Du kommst nie drauf, wenn du es so sehr willst“, murmle ich mit zusammengebissenen Zähnen. Und erkenne die Ironie dieser selbst auferlegten Prophezeiung. Ich seufze. Gefangen in der eigenen Tretmühle. Oder heißt es Hamsterrad? Wie dem auch sei, ist eh beides ein Kreis. Und im Kreis laufen hat noch keinen weiter gebracht. Ich schmunzle bei dem Gedanken daran, wie lustig es aussähe, wenn ich nun aufstünde und panisch im Kreis rennen würde. Ich könnte sagen, meine Gamma Hirnwellen seien eskaliert und es wäre die einzige Möglichkeit, den ganzen dadurch ausgelösten Stresshormonen wieder Herr zu werden. Doch sicherlich würden sie mich dennoch für völlig bekloppt halten. 

Zurecht wie ich finde. Zumindest würde ich das denken. Aber ich würde auch ziemlich heftig lachen. Nicht auslachen, vielmehr mit der Situation lachen. Das ist ein wichtiger Unterschied. Wie zwischen kindisch und kindlich. Wenn ein Erwachsener sich kindisch verhält, ist das ein Unterschied zu kindlich, eben wie zwischen auslachen und mitlachen. Wir bringen das im Alltag häufig durcheinander und schämen uns dann, wenn wir mit vorgehaltener Hand kichern, als ob man dafür bestraft würde. 

Mir fällt ein Typ ins Auge, der knapp zwanzig Meter von mir entfernt steht und wie ein Depp vor sich hin grinst. Ich schmunzle. „Erwischt“, sage ich und tätschle mir dabei gedanklich den Hinterkopf. Mein Blick fällt auf meine rechte Hand. Der Zeigefinger hatte sich offensichtlich aus der wohligen Wärme der geschlossenen Hand befreit und war nun bereit sich zu erheben. Seit ich angefangen hatte, auf mich selbst zu achten, fielen mir die widersprüchlichsten Gedanken auf und ich konnte nicht anders, als mich schmunzelnd dafür zu belehren. Das sorgt im Prinzip für noch mehr Stimmen im Geiste als die üblichen Verdächtigen aus Kopf und Herz. Doch diese neue ist ein echter Gesprächspartner. Und wirklich hilfreich bei der Entscheidungsfindung und so Nebensächlichkeiten wie großen Zielen. 

Nebensächlich darum, weil wir lieber 40 Jahre die gleiche Tretmühle hamstern, anstelle unser Ding durchzuziehen. Oder waren es 80 Jahre? Haben unsere Eltern und Großeltern nicht auch eben diesen Zyklus am Leben gehalten? Und wie war es vorher? Sicher, die Verhältnisse haben sich geändert. Ich lebe in einem Land ohne Krieg, aber die Welt hat dennoch Krieg, eben nur an anderer Stelle. Der Zyklus dreht in dieser Größenordnung einfach etwas langsamer, aber mal im Ernst, wann bestand das Leben nicht aus aufstehen, arbeiten, hinlegen? Sicher, wir haben jetzt mehr Freizeit, keinen Krieg und leben länger als jemals jemand vor uns. Dafür füllen wir unsere Freizeit mit Stress, weil wir bei dem Überangebot keine Entscheidung treffen können. Wir haben keinen Krieg, aber dafür keine Gemeinschaft. Wo ist er hin, der heilige Geist unserer Vorfahren? Vergessen wie die eigenen Kinderjahre. Und dafür, dass wir länger leben, haben wir erstaunlich viel Zeit mit Arbeiten verbracht und Tabletten gefuttert. Von wegen erwachsen, das nenne ich kindisch, genau wie nicht laut und gellend zu lachen, wenn einem danach ist. 

Ewige Wiederkehr des Gleichen...

Ich seufze. Eine dicke Wolke schiebt sich vor die Sonne und bedeckt mich mit Schatten. Sofort kühle ich ab. Spüre wie sich die Härchen auf meiner Haut aufstellen. Gänsehaut macht das Gewebe fest. Wie ein Panzer werden die Muskeln steif und unbeweglich. Aber auch hart und robust. Hat eben alles sein Gutes. Ich fühle die Kälte, wie sie meinen Rücken hinunter kriecht und eine Welle des Zitterns verursacht. Kühle Gedanken und Kälte sind eine hoffnungslose Kombination. 

Mein Blick schweift über die Wiese des kleinen Parks. Versucht die Wogen in mir wieder zu glätten und bleibt an einem Baum hängen. Ich weiß nicht warum, kann mich aber nicht mehr davon befreien. Wie eine Katze vor einem Mauseloch, gespannt in der Erwartung eines plötzlichen Ereignisses, klebe ich an seiner Rinde. Die Entfernung zu ihm verwischt die Kontraste und mir ist als ob sie sich bewegt. Inzwischen ist der Platz weniger belebt. Die auffrischenden Winde hat die Leute allmählich wie Blätter vertrieben und so eine friedliche Ruhe erschaffen. Ich beschließe aufzustehen und den Baum von Näherem zu betrachten. Während ich auf ihn zugehe, stelle ich mir vor, wie Flüssigkeiten in feinen Adern in ihm aufsteigen. Die Rinde hilft mir dabei, denn sie erinnert mich an Leitungen an einem Verteilerkasten. Viele Adern, denke ich und spüre wie der feuchte Rasen unter meinen Schuhen nachgibt. 

Ich bleibe dicht vor ihm stehen und betrachte ihn. Seine feine Maserung macht mich aufmerksam und scheint irgendetwas in mir zu wecken. Ich folge der Rinde in Richtung der Krone. Wie eine Schnecke kriecht mein Blick von Maserung zu Maserung und bedeckt dabei alles mit einer konzentrierten Aufmerksamkeiten. Plötzlich, knapp ein bis zwei Meter über meinem Kopf, bleibe ich an einer Stelle stehen, die sich vom Rest des Holzes unterscheidet. Jemand hatte etwas in die Rinde geritzt. Ich beginne auf den ersten Ast zu klettern und erstarre bei dem Anblick. 

In einem verwitterten Herzen prangen mir zwei Namen entgegen. Die vergangenen Jahre haben die ganze Schnitzerei sehr mitgenommen. Vieles ist undeutlich geworden, doch die vier Buchstaben, die meinen Namen beschreiben, hämmern auf mich ein. Der andere Name jedoch ist mir fremd. Was hat das zu bedeuten? Stirnrunzelnd betrachte ich das Zeichen vor meinen Augen und schaudere. Eigentlich bin ich mir ziemlich sicher, noch nie hier gewesen zu sein, doch jetzt drängte sich ernsthafter Zweifel in meine Gedanken. 

Ich überlege, starre dabei weiterhin wie gebannt auf die Stelle vor meinen Augen und verliere mich in widersprüchliche Vermutungen. Ich erinnere mich an Momente in meinem Leben, in denen ich einen Baum auf diese Weise verziert habe, und beginne zu lächeln. Verschiedene Bilder drängen sich in mein Bewusstsein. Erinnerungen an glückliche Momente. Doch auch jene nach dem Glück. Die voller Herzschmerz und quälender Leere in einsamen Nächten. Kinderjahre, Jugendjahre, Pubertät, alles Erfahrungen, die uns zu dem Menschen machen, der wir heute sind. Darunter viele Kämpfe, die gewonnen wurden, doch auch viele Tränen, die Teil dieses Weges waren. 

Als mein Blick wieder fokussiert, sehe ich klarer. Die Gefühle in mir gleichen einem Wirbel aus Nostalgie und Sepia. Die Botschaft ist eindeutig: 

"Wer Du auch bist, das hättest Du sein können.“ 

Vielleicht war es der Zufall, vielleicht ich, jedenfalls gab es eine Zeit, in welcher ein Junge seine Liebe hier verewigt hat. Ebenso wie es eine Zeit gab, in der ein Junge diese Liebe wieder fand und spürte, was er damals fühlte. 

Ich steige von dem Baum. Bleibe erneut vor ihm stehen um ihn in neuem Licht zu betrachten. „Wie viele Menschen Du wohl schon gesehen hast? Wie viele Schicksale? Ein stetiges Treiben aus individuellen Dramen und Komödien. Sag, wie viele Liebende küssten sich unter Deiner Krone?“ 

Stumm wiegt sich der Baum im Wind. Raschelt mit seinen Blättern und erinnert mich daran, wie viele es sind. Alle individuell und doch gemeinsam. 

„Alle“, flüstert es im Rascheln. 

Sicher, wir sind alle individuell, doch etwas Besonderes werden wir erst, wenn wir im Unterschied die Gemeinsamkeit erkennen. Letztlich wiederholt sich der Zyklus aus Frühling und Herbst und wie die Blätter am Baum haben wir alle unser eigenes Schicksal. Doch ebenso hängen wir alle am selben Stamm. Und streng betrachtet ist der Unterschied zwischen Blatt und Mensch nur die Anzahl der Gene und Zellen, der Boden auf dem wir stehen, naja, da stehen wir alle drauf. Und ganz egal, was jeder von uns schon alles gefühlt und erlebt hat, es ist nie mehr als das Gemisch aus Freude, Angst, Trauer und Wut. Den anderen nicht zu verstehen, heißt, ihm nicht zuzuhören. Es gibt nichts, was nicht schon gefühlt wurde, daher gibt es auch keinen, der nicht verstanden werden kann.

Empathie ist keine Fähigkeit. Empathie ist das, was uns verbindet.