Über die Mütter ihrer Kinder

Ich drehe den Blick. Ich weiß, alles was auf meine Netzhaut trifft, wird von meinem Geist umgedreht. Doch ist es dadurch richtig herum? 

Um mich herum sehe ich die Augen der anderen. Ihre Blicke richten sich auf den Boden. Eine Armee aus niedergeschlagenen Umherkehrern. In ihrer Mitte fällt mein Schauen auf ein kleines Mädchen. Sie trägt ein hellrotes Kleid. Ein Blickfang in der Masse aus grauen Farben um mich herum. Sie tanzt mit sich selbst und kümmert sich nicht darum, sich zu blamieren. Wie seltsam es wäre, ihr dies vorzuwerfen. Einem Kind vorzuwerfen sich nicht zu blamieren, wie bescheuert! 

 

Plötzlich bleibe ich stehen, ich weiß nicht, wieso. Das Mädchen stoppt in ihrer Bewegung, als es mich sieht. Sie betrachtet mich. Ich halte inne und schaue zurück. Ein Erwachsener, der ein Kind anstarrt. Was wohl die anderen denken? Doch als ich diesen Gedanken abschüttle, bemerke ich, dass alle anderen verschwunden sind. 

 

„Hallo du?“, frage ich vorsichtig.

 

Sie lächelt. 

 

Fang mich!“, ruft sie und beginnt zu rennen. 

 

Ich bin verunsichert, was soll ich tun? Langsam beginne ich mich in Bewegung zu setzen. Was mache ich hier? Ich beschleunige meinen Schritt. Sie ist schnell und beginnt mich abzuhängen. Bald schon ist sie verschwunden und ich weiß nicht wohin. Als ich allmählich zu rennen beginne, hole ich auf. 

 

„Hab dich!“, rufe ich triumphierend, als ich ihren Arm berühre. 

 

„Jetzt du“, fordert sie mich auf. Ich muss erst atmen, doch dann willige ich ein. Ich beginne zu rennen, einfach geradeaus, ich weiß selbst nicht wohin. Sie folgt mir. Ich biege ab, befinde mich in einer Gasse, die Wände hindern mich am Ausweichen. Ich höre ihre Schritte hinter mir. Höre, wie sie immer näher kommt. Als ich nach vorne blicke, sehe ich wie eine wunderschöne, junge Frau auf mich zukommt. Wir nähern uns immer schneller. Ich bin umzingelt, denke ich und werde langsamer, will mich der Gefangennahme ergeben. Doch auch die junge Frau wird langsamer. Als uns nur noch wenige Meter trennen, erkenne ich ihre Umrisse besser. Sie trägt langes, dunkles Haar und schaut irritiert in meine Richtung. Plötzlich erscheint ein kleiner Junge neben ihr. Er trägt ebenfalls lange Haare, ist aber über und über mit Ketten behangen. Als er ihr an den Arm tippt, höre ich die Stimme des kleinen Mädchens hinter mir. „Hab dich“, flüstert er, während er die junge Frau liebevoll anschaut. 

 

"Komm Schatz“, höre ich die Stimme des Mädchens, während ich die Lippen des Jungen beobachte. 

 

„Mama“, höre ich mich sagen und sehe wie sich die Lippen der jungen Frau bewegen.

 

Viel zu lange brauche ich, um zu begreifen, dass ich vor einem Spiegel stehe. Doch warum bin ich nicht ich? Immer noch irritiert, blicke ich in die jungen Augen des Spiegelbildes meiner Mutter. Ich sehe, wie der Junge die Hand ihres Spiegelbildes greift und spüre, wie sich die Wärme einer kleinen zarten Hand in die meine schmiegt. 

 

Das Hämmern an die Grenzen meines Verstehens dringt immer tiefer in mein Ohr und mir wird schwindelig. Ich spüre wie die Fragen in mir leiser werden. Bald werde ich die letzte überhören. Es gibt keine anderen mehr. Keine Frage mehr, ob ich mich blamieren kann, ob ich etwas falsch machen kann. Es ist alles gedacht, was gedacht werden musste. In mir steigt das Gefühl von Sicherheit. Und Schwindel.

 

Alles, was ich bis zu diesem Moment gefühlt habe, ist nur noch ein Schatten seiner selbst. 

 

Ich beginne mich in Bewegung zu setzen, laufe auf meine Mutter zu und sehe, wie sie auf mich zu kommt. Dabei lasse ich die kleine Hand nicht los, spüre wie sie mir folgt. Als ich an der Spiegelfläche stehe, verliere ich mich in den kastanienbraunen Augen, die ich länger kenne, als meine eigenen. Ich halte nicht an, fühle wie unsere Spiegelbilder verschmelzen und ich allmählich eintauche. Die Kälte der glasigen Oberfläche schiebt den letzten Rest an alltäglichen Gedanken zurück. Wie durch einen Filter sinke ich immer tiefer. Als ich die Augen schließe, sehe ich Farben. Farben, wie ich sie noch nie gesehen habe. Ein Strudel aus Regenbögen trägt mich immer tiefer in die Schwerelosigkeit, und ich gebe auf. Gebe mich auf und zugleich hin. Mein ganzes Dasein strahlt in der Vielseitigkeit der Farbspektren. 

Wärme durchflutet mich, während mein Geist kühl und klar bleibt. 

 

Plötzlich höre ich wie liebevoll vorsichtig eine Melodie zu mir durchdringt. Ich kann nicht widerstehen und lasse mich von ihr tragen. Ein Gefühl von Glück beginnt meinen Körper zu durchströmen und ich will nur lauschen. Ich kenne diese Melodie, kann sie aber erst nicht zuordnen. Doch allmählich drängt sich eine Erinnerung in meinen Geist. Das Lachen von Mama, das Lachen, das du schon seit deiner Entstehung auf diesem Planeten kennst. Seit du in ihrem Bauch die Welt durch ihre Augen siehst. 

 

Ich öffne die Augen. Ich liege auf dem Sofa im Wohnzimmer bei meiner Mutter. Offenbar bin ich eingeschlafen, doch jetzt bin ich hellwach. Ich kann nicht sagen, was ich geträumt habe, doch ich spüre, was ich fühle. Ich drehe den Kopf und sehe Mama, wie sie am Sofatisch sitzt. Sie lächelt verträumt und blickt auf das Bild in ihren Händen. Sie hat nicht bemerkt, dass ich aufgewacht bin und so lasse ich sie noch eine Weile in dem Glauben.

 

„Mama?“, frage ich.

Behutsam dreht sie den Kopf in meine Richtung. In der Feuchtigkeit ihrer Augen spiegelt sich das Licht wieder. In ihrem Blick sehe ich das süße Leuchten eines kleinen Mädchens, das gerade ein glänzendes Eis überreicht bekommt. 

 

„Du bist eingeschlafen“, sagt sie, nachdem sie sich versichert, dass ich wirklich wach bin. 

 

Sie sitzt mir gegenüber. Vor ihr bildet das Bilderchaos auf dem Wohnzimmertisch eine Collage an Erinnerungen. Ständig aufblitzende Szenen vermischen sich mit akuten Gefühlen und wiegen das Herz in einen sanften Strudel aus Nostalgie. 

Auf dem Bild in ihrer Hand ist eine junge wunderschöne Frau. Ihre langen dunklen Haare umschmeicheln ihr zartes Gesicht. Feine Linien zeichnen ihre Gesichtszüge. Sie umgibt eine ganz eigene Schönheit. Nichts, was sich hiermit vergleichen lassen würde. Ich erstarre bei dem Anblick. Keinesfalls unangenehm. Vielmehr verfängt sich die Zeit in diesem Erstarren, um für einen Moment stehen bleiben zu können. Neben der jungen Frau sitzt ein kleiner Junge. Seine Haare sind lang und irgendwie gleichen sich die Frisuren der beiden. Seinen Hals zieren zahlreiche Ketten, ebenso wie sein Handgelenk. Sie blicken beide in die gleiche Richtung und scheinen jemandem zuzuhören, der außerhalb des Bildes steht.

 

Mich erfüllt ein Gefühl von Gelassenheit und Glück und ich muss lächeln, während meine Augen die Feuchtigkeit in ihren spiegeln. 

Daraufhin setzt sie sich neben mich und nimmt mich in den Arm. Ich bin nicht mehr allein, war es nie. Fühle mich aufgehoben. 

 

Ich weiß, dass ich nichts sagen muss, Gefühle sagen mehr als tausend Worte. Ich spüre, wie die Verwirrungen und Fragen des Alltags verschwunden sind. Wer sind schon die anderen, wenn es außer Mama und dir niemand gibt? 

 

Es gibt keine stärkere Verbindung, als die einer Mutter zu ihrem Kind, selbst wenn diese Verbindungen über die Zeit durch viele Herausforderungen muss. Doch was sind Herausforderungen anderes, als der Stoff, aus dem die Verbindung entsteht.

 

Als wir unsere Umarmung lösen, schaue ich in ihre Augen. Kastanienbraun, wie meine, denke ich abwesend. Unerwartet packt mich wieder der Schwindel aus meinem Traum. Der Kreisel meiner Gedanken will mir etwas Offensichtliches zeigen, doch noch dreht sich alles im Kreis. 

 

"Ich bin du!“, platzt es aus mir heraus, während ich, stolz auf diese Erkenntnis, zu grinsen anfange. 

 

Sie beginnt zu lächeln, streichelt mir über den Kopf. 

 

„Ich weiß“, antwortet sie mir und küsst mich auf die Stirn. „Und du bist ich“, ergänzt sie meine Feststellung. 

 

Etwas irritiert darüber, dass ich erst jetzt darauf gekommen bin, erinnere ich mich an den Traum. 

 

Vielleicht geht es im Leben nicht darum aufzuwachen, sondern einzuschlafen und das Leben zu träumen. 

 

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