Über konstante Veränderung

20180909_122547.jpg

In ihrem Blick lag etwas Weites. Während sie dort oben stand und in die Ferne schweifte. Frei. Der Wind streichelte ihr Haar und tanzte mit den Spitzen. Die Sonne war die ersten Meter über den Horizont geklettert und hatte die Landschaft in warme Morgenröte getaucht. Ein Hauch von leidenschaftlich fruchtigem Orange gekitzelt mit strahlend hellem Zitronengelb und einem vielseitig blauem Farbspektrum aus sich daraus ergebendem Mischformen. Das Licht traf auf ihre Haut und hatte die Eigenschaft, sie ins Hier und Jetzt zu überreden. Vor ihren Augen erwachte gerade die Welt. Sonnenstrahlen überwanden Schatten, erhellten so mehr und mehr der noch unentdeckten und verschlafenen Ecken. Wie eine unendlich strahlende Energie legte sich das Licht über die Hügel. Begrüßte singende Vögel und zirpende Grillen in dunkelgrünen Baumkronen. Erwärmte die noch morgenmüden Bienen und andere Warmflieger in ihren Bauten und veränderte so das Atmo der Sphäre. Ein langsam geschäftigeres Surren klang allmählich an und kroch die ersten Meter des Berges hinauf, auf welchem sie gerade ins Tal spähte. 

 

Sie überlegte, verwarf den Gedanken jedoch wieder und verlor sich erneut in Betrachten. Aufgeregt wechselte daher gelegentlich ihr Blick nach oben und verriet so, dass sie gerade in einer Überlegung suchte, was ihr soeben ins Bewusstsein gekommen war. Auf ihrer Stirn verriet die Sorge einen leichten Anflug. Die ganze Szene glich einem Ereignis, das sozusagen an jedem Tag geschah. Der Sonnenaufgang war schließlich ein wiederkehrendes Phänomen, doch dieser Morgen war anders. An diesem Morgen war sie es, die nun hier stand und alles unter Betracht nahm, was die Welt ihr zu Füßen legte. Für einen kurzen Moment im Meer der Unendlichkeit war sie hier hinauf gekommen. Hatte sich eingerichtet und beschlossen, diesen einen Moment für sich auszukosten. Ihn vom Anfang bis zum Ende bewusst wahrzunehmen. Zu zelebrieren, ihn wahrnehmen zu können. Das war das Ergebnis gewesen, als sie sich Gedanken darüber gemacht hatte, dass sie sterben würde. Nicht, dass sie gewusst hätte wann, nichts zeichnete ihre junge Schönheit oder bedrohte ihre Gesundheit. Sie gedachte ihrem Leben nicht aus akuter Lebensgefahr. Doch in Zeiten, in denen Sorgen die Gedanken begleiten und Trauer das Herz verlangsamen, sind die Tage durchaus von etwas Müdem begleitet. Sie sieht es immer dann, wenn sie ihrem Umfeld begegnet, Gesichter unter deren Lächeln etwas Trauriges zum Vorschein kommt. Etwas Mitgetragenes, wie schwere Gedanken aus der Vergangenheit. 

 

Auch in ihrem Blick war dies ein Grund, weniger hell zu funkeln. Doch gerade für solche Situationen gab es Momente wie diesen, welchen sie gerade bewusst wahrnahm. Der Eindruck, der durch das Anbrechen des Tages entstand, war gezeichnet von etwas Größerem. Etwas von ewigerer Beständigkeit und Vertrautheit. Von einem Ganzen, das bis in alle Zeiten Existierendem überhaupt eine Grundlage bieten würde. Im Trubel von Beschäftigungen verrennt sich der Verstand genauso in Unsinnigkeiten wie der Körper in seine täglichen Muster. Labyrinthe ohne sichtbare Mauern, da nur der Verstand sie reinprojiziert. Tägliche Pfade wie festgefahrene Nervenverbindungen. Ob sich der Geist genauso strukturiert, wie wir uns bewegen? Wo bleiben wir stehen? Wo gehen wir weiter? Welche Wege sind für uns passierbar

 

Ein kreischender Falke riss sie aus ihren Gedanken, als er in ihrem Blickfeld hinabstürzte. Wie ein Pfeil zerschnitt er die Luft, bis er sich die schon warm gewordenen Winde zum sanften Auftreiben nutzbar machte. Sein Flug hatte keine Beute im Visier. Vielmehr hatte es den Schein, als wollte er einfach fliegen, weil er es konnte. „Vielleicht konnte er nicht mehr widerstehen“, schmunzelte sie, als sie daran dachte, wie gerne sie ihre Flügel ausgebreitet hätte, um ihm zu folgen. Jedoch ist das Fliegen nicht unbedingt die beste Fortbewegungsart für den Menschen. Nein, seine Fähigkeiten liegen an anderer Stelle. Doch genau wie ein Schmetterling seine Kraft zum Fliegen erst im Ausbrechen des eigenen Kokons erhält, so ist auch dem Menschen ein Ausbrechen vorgegeben. Ausbrechen aus dem alten Dasein, hinein in das Unbekannte. Fraglich, ob der Schmetterling dabei die gleiche Bandbreite an emotionalen Hochs und Tiefs erlebt wie ein Mensch. Doch warum eigentlich nicht? Schließlich folgen sie einem ziemlich ähnlichen Verhalten wie wir in einem Leben. Nur mit deutlich weniger Arbeit. Und sie sehen dabei meistens sehr beschwingt aus. Fast sorglos. 

 

In der Ferne sah sie eine Bewegung, die auf sich aufmerksam machte. Im unendlichen Blau des Meeres bewegte sich etwas zwischen den Wellen. Eine Unregelmäßigkeit, die aus der Matrix der sonst einheitlichen Wellenbewegungen hervorstach. Sie erkannte zwei weiße Segel an hölzernen Masten. Doch weniger das Weiß hatte sie aufmerken lassen. Vielmehr waren es die langen Schatten, die sie wie schwarze Löcher auf das vorsichtig warm werdende Blau des Wassers warfen und es verdunkelten. Ein Gefühl von Neugierde und aufgeregter Nervosität breitete sich von der Mitte ihres Torsos aus und belebte mit prickelnder Klarheit ihre Wahrnehmung. Sie stellte sich vor, dass es ein Handelsschiff aus fernen Welten war. Mit Geschichten von Wundern und einzigartigen Erzählern, deren Ausstrahlung keine Sekunde an der Richtigkeit ihrer Erlebnisse zweifeln ließ. Die Welt würde an Glanz verlieren, wenn sich solcherlei Geschichten nicht mehr erzählen würden. Und dabei war die Welt schon ein kleinerer Ort geworden. Globalisierung und große Städte ließen immer betone Mauern und steinerne Wege zurück und vertrieben so das Natürliche aus der Aufmerksamkeit derer, die auf ihnen schritten. 

 

In den Städten war es staubig, laut. Dämonisch. Verschworene Gemeinschaften, deren Entfremdung zum eigenen Geist so voranschritt, dass mittlerweile nur noch wenig Esprit für echte Spiritualität übrig war. Die Entgeisterung verbarg sich Tags hinter der Fassade der Geschäftigkeit, doch des Nachts kroch sie dort am stärksten hervor, wo der Anschein am Schönsten war. Bilder aus den tiefen ihres Unterbewusstseins drangen aus der Ignoranz an die Oberfläche und verlangten nach Aufmerksamkeit. Sie schüttelte den Kopf, rief sich wieder zurück ins Hier und verdrängte erfolgreich jene Gedanken, die sich in Bildern so abscheulich darstellten, dass sie nicht verständlich darüber nachzudenken vermochte.

 

In diesem Moment landete ein Schmetterling auf ihrer Schulter. Er breitete seine Flügel aus und wärmte sich in den Strahlen der Sonne, die nun auch sie gänzlich in ihr Antlitz hüllten. Das kräftige Orange des kleinen Falters schimmerte im Sonnenlicht, reflektierte es in ihre Augen und traf sie an einem Punkt in ihrem Körper, der ihr Mut machte und ihren Geist erneut er-freute. Die neugewonnene Energie fand jedoch auf direktem Weg zurück in ihre Gedanken und versuchte sich in der Tragik des Lebens zurecht zu finden. 

 

Ihr Rücken verkrampfte leicht, nachdem ein Schauer ihn hinab gekrochen war. Gefolgt von einem weiteren Beben begann sie zu frösteln. Sie musste wieder an die Städte denken. An all das, was sich auf so engem Raum abspielte. An Hochhäuser in denen Menschen lebten wie Ameisen. Straßen, die so dunkel waren, dass selbst im hellsten Tageslicht kein Strahl sie einladend wirken ließ. Der Abschaum jener Wellen, deren Wassertropfen zu hoch hinauswollten, um dann in verdreckten Rinnsalen zu landen. Nur um dort durch gepflasterte Straßen zu kriechen und so noch mehr Schmutz in sich zu sammeln. 

 

Sie schluckte. Sie dachte an Geschichten aus vergangenen Tagen. Kriege und Gewalt, gefolgt von verschwenderischen Friedenszeiten, in welchen vergessen wurde, wem der Reichtum zu verdanken war. Nicht dem Beschaffer, sondern dem Verlierer. Schicksale, deren Leben Wendungen hinnehmen mussten, in die hineinzuversetzen sie gerade noch im Stande war.

 

Der Schmetterling auf ihrer Schulter drehte den Kopf zu ihr und musterte sie. Ein Kichern bahnte sich den Weg durch ihre Gedanken, um sich in ihrem Gesicht zu offenbaren. 

 

„Wie schön du doch bist“, flüsterte sie leise als der Schmetterling sie weiterhin nicht aus den Augen ließ. 

 

Er flatterte mit seinen Flügeln und drehte sich einmal um sich selbst. 

 

„Was möchtest du denn mein kleiner Freund?“, fragte sie mit so viel Wärme in der Stimme, dass sich wohl selbst der Stein unter ihren Füßen zu einer Antwort bemüht hätte. 

 

Der Schmetterling hielt inne und drehte erneut den Kopf in ihre Richtung. Sie beobachtete seine Fühler und wie sie händeringend nach etwas zu greifen schienen. 

 

„Bin ich ein Schmetterling in einer Raupe, oder aber bin ich eine Raupe in einem Schmetterling?“, fragte plötzlich eine Stimme in ihrem Kopf. 

 

Sie stutzte. Nicht, dass sie sich über eine solche Frage wunderte, nur hatte sie nicht damit gerechnet, sie so unaufgefordert in ihr wahrzunehmen. 

 

„Unaufgefordert?“, erwiderte die Stimme in ihrem Kopf. „Du hast mich doch gerade eben etwas gefragt oder nicht?“, fragte die Stimme erneut. 

 

Benommen ignorierte sie die Verwunderung darüber, mit einem Schmetterling zu kommunizieren, und antwortete hastig. 

 

„Nun, du bist zunächst eine Raupe, dann ein Schmetterling. Ich schätze, du bist also ein Schmetterling in einer Raupe, der nun ein Schmetterling ist.“

 

„Das ist richtig“, antwortete die Stimme, „doch was bin ich, nachdem ich ein Schmetterling war? Werde ich erneut zu einer Raupe?“

 

Sie überlegte. Betrachtete den Schmetterling und stellte sich vor, wie er wieder zur Raupe werden würde, um dann wieder ein Schmetterling zu werden. „Insofern du Nachkommen gezeugt hast, bleibt dein Wesen in gewisser Weise erhalten, ja“.

 

„Was bedeutet, in gewisser Weise?“, fragte nun der Schmetterling seinerseits. „Sind es nicht meine Nachkommen? Also jene Wesen, die nach mir kommen? Und bin ich jetzt nicht jenes Wesen, das nach der Raupe kommt? Wer also davon bin ich, Raupe oder Schmetterling?

 

„Dann bist du also beides?“, entgegnete sie ihm fragend. 

 

„Beides und nichts davon“, antwortete der Schmetterling. „Ich bin die Bewegung, die Energie, wenn du so willst. Ich bin das Leben in Raupe und Schmetterling und gleichzeitig sind Raupe und Schmetterling nur eine Form von mir und nicht ich. Du siehst die Schönheit des Tages, doch begründet sich ein Tag immer in jener vorangegangen Nacht um dann in der nächsten auf ewig zu verschwinden. So wie sich jedes Einatmen im Ausatmen verliert, so auch die Raupe im Schmetterling und der Schmetterling in der Raupe. Die Bewegung jedoch, die ist ewig, zumindest so lange sich überhaupt etwas bewegt.“ 

 

Sie dachte zurück an die engen Gassen der Stadt. Die lieblosen Fassaden der Häuser, die nicht mit Prunk, dafür aber mit Wärme sparten. Situationen, in denen es schwer fiel über den eigenen Horizont zu schauen, da zu viele Wände den Blick versperrten. 

 

Als hätte der Schmetterling ihre Gedanken erraten, begann er erneut zu flattern. Und wieder begann sie zu kichern, schämte sich jedoch im selben Atemzug, da sie es bei diesen Überlegungen für unangebracht hielt, zu kichern. 

 

„Liebst du das Leben, so liebe es auch in all seinen Formen. Die Nacht bringt die Schattenseiten des sonst so hellen Daseins zum Vorschein. Daran ist nichts Verwerfliches. So ist es auch die Liebe, aus welcher der Krieg hervorgeht. Doch ist es deswegen die Schuld der Liebe, dass es Krieg gibt? Womöglich, doch ohne Krieg auch keine Liebe, in der er sich wieder befrieden kann. Der Krieg verliert sich in der Liebe und die Liebe verliert sich im Krieg und gerade darum sind sie miteinander verbunden. Wie im Tanz bewegen sich Hass und Liebe im stetigen Wechsel und ergeben erst zusammen ein vollkommenes Paar. Vereinen tun sie sich im lieblichen Hass oder der hässlichen Liebe. Daran ist nichts Verwerfliches, denn dank der Zeit erleben wir sie in ihrer Vielfalt aus Komik und Tragik und das, nun ja, das ist der Sinn des Lebens. Nämlich gelebt zu werden, selbst wenn es schmerzt aus dem Kokon des alten Lebens auszubrechen.“ 

 

„Ich danke dir“, flüsterte sie leise, als der Schmetterling sich erhob und sich vom Wind davon tragen ließ.

 

„Liebe dein Schicksal, denn dein Schicksal ist Leben“, war das letzte, was der Schmetterling zum Abschied sagte.

 

Sie blickte auf die Welt, die ihr immer noch zu Füßen lag. Ein schöner Ort, dachte sie sich, und seufzte.

 

Trotz Betonwänden und steinernen Fassaden.

Oder vielleicht gerade darum?