Über die Lichter der Stadt

20200714_214234.jpg

Das Licht der Fenster macht die Stadt zu einem abstrakten, nächtlichen Spektakel. Während

die Natur die Schatten ihrer Geheimnisse im Dunkeln aufleben lässt, leuchtet sie der Mensch

auf die Straßen. Sie wirken wie einzelne Theater im Vorbeigehen. Von oben betrachtet ein

einziges Meer aus Geschichten. Dramen, Theater, Komödien, Verwirrendes,

Unveränderbares. Alles hinter Glas. Von innen erleuchtet und als Schattenspiel auf die

Straßen projiziert. Manches mit Ton. Anderes seltsam verzerrt durch offene Fenster an

anderen Wänden. Obszön. Das menschliche Treiben. Unverstanden von den Geschöpfen des

natürlichen Dunkels. Tragen sie doch die höfliche Scham der Demut im Herzen und

vollführen nicht all ihr Schauspiel noch bei Rampenlicht zu Tage. Treiben es im Verborgenen,

während sich die Gestalten im Innenraum ungesehen wähnen. Doch irgendwer schaut immer.

Keine Ecke ist zu dunkel für das Gewissen. Die Geister finden einen auch bei

geschlossenen Augen.

Die Stadt bei Nacht. Wunderlicher Anblick. Doch gleichsam faszinierend. Als spähe man in

fremde Welten. Gerufen sich der eigentlichen Bedeutung des Unerhörten gewahr werden zu

lassen. All samt in einer aus Neonröhren pulsierenden Stadt gebettet. Wie Bienen in ihren

Waben krabbelt das Menschenwesen in seiner beheizten Zelle umher. Wurmt sich mit

Verantwortung und verliert dabei sein Wesen aus dem Blick. Verhält sich zu sich selbst wie

der Einäugige zu den Blinden und verpasst es in den Spiegel zu blicken. Ich frage Dich, war

es denn je anders?

Selbst die Wände aus Lehm erfüllen ihren Zweck. Bilden die lebendige Siedlung inmitten

einer atmenden Natur. Sind wir denn nicht ein ebenso pulsierendes Organ in einem

schlagenden Ganzen? Lebt nicht der vollkommene Kosmos vom Ein- und Ausatmen Deiner

Wahrnehmung von ihm? Spielst Du nicht Dein eigenes Spiel mit ihm? In ihm?

Ich sehe sie vor mir. Die Fenster mit ihren Geschichten. Hinter manchen flackert das Licht.

Andere toben. Die eine tänzelt bei gedimmtem Licht, der andere entlässt seine Sorgen dem

kalten Rauch einer roten Glut bevor er zu Bett geht. Alles macht, alles tut. Sie sind wie

Kinder einer Welt, die nicht genug Hände hat, jedem unter die Arme zu greifen, doch Augen

die sehen, worin das Ungleichgewicht besteht. Nicht nur zwischen Mensch und Natur. Vor

allem von Mensch zu Mensch und dem Selbst im eigenen Spiegel. Wiegt sich in Sicherheit,

doch ragt die Mehrheit über die Klippe. Droht auch den Rest zu Kippen. Aus und vorbei dann

der Traum vom freien Menschen. Verschlossen im eigenen Geist und darüber hinaus noch zu

stumpf um sich im Gegenüber zu sehen. Doch mit dem Rest dreht sich auch das Blatt. Und

wird neu gemischt. Die Zeiger genullt und die Uhr um den Sand gedreht. So beginnt mit der

Wende eine neue Zeit.

Die Schatten auf den Straßen verraten den Wandel. Es herrscht Spaltung in den

Vorstellungen. So trennen die einen das Private vom Eigenheim. Die anderen verbinden die

offenen Stellen und schöpfen Sinn im Gespaltenen. Die Lichter der Stadt. Unzählige Leben.

Atmen das Ein und Aus des Alltäglichen. Bedeuten sich mit Recht. Erfinden Lügen und

erklären sie zur Wahrheit. Meistens harmlos, mitunter erheiternd erhitzte Gemüter

abreagieren zu sehen. Vor allem ohne Ton. Doch gleichsam verstörend, wenn Blut fließt.

Keine Stimme der Vernunft klingt durch das Glas. Zu stark isoliert. Das Licht erlischt.

Eine Geschichte endet, eine andere beginnt. Erotik ist meistens mit im Spiel. Doch ebenso

schnell vorbei. Blinkende Fernseher verbreitern das Bild. Ansonsten Arbeit, Essen und

Kinder. Viele allein, die meisten im Streit. Selten, doch immer wieder zärtliche Berührungen.

Eine unendliche Erzählung. Leben, jeden Tag, jede Nacht bis zum Ende von Licht und

Dunkel. Zahllose Lichter, alle mit eigenem Schein. Jeder, der sich erhellt zu leuchten und im

Moment das Beste gibt. Und dabei so verschlossen.

Die Stadt bei Nacht. Drehst Du den Blick in den Himmel und siehst die Sterne, bemerkst Du

es. Das Leuchten. Wie oben so unten. Funkeln um zu scheinen. Gesetz der Sterne. Atmend im

Kosmos, verbunden mit allem. Lebendig am Sein. Unendliche Geschichten, ewige Erzählung.

Und am Anfang stand das Wort. Wir werden sehen, wohin das Ganze führt; sind wir doch ein

Teil von ihm. Es bleibt offen, wohin das Theater spielt, ist ihm doch keine Grenze gesetzt.

Danke ihr funkelnden Sterne. Wie Stars vor dem Vorhang der Schauspielbühne unterhaltet ihr

den großen Geist, der euch im Ganzen sieht und jeden Moment mit Dir fühlt.

Gute Nacht Welt.

Luca Merkle