Über gedankliche Spaziergänge

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Sie gingen bereits einige Meter zusammen. Gingen ohne Ziel in eine Richtung, aus der die Sonne ihnen entgegen schien. Die Zeit, in der sie sich bewegten, war chaotisch geworden. Viele Geister, die gleichzeitig um Aufmerksamkeit schrieen. Die Tiefen unterbewusster Ängste drängten durch die Unruhen an die Oberfläche und offerierten Narben, die schon so lange zurück lagen, dass ihre Entstehung irgendwo in den grauen Vorzeiten längst vergessener Tage lag. Die Welt zeigte ihr wahres Gesicht. Eines, das unter zu viel Make Up in einer Zeit verborgen lag, als die Mehrheit noch wegschauen konnte. Doch heute richteten sich die Berichterstattungen direkt aus den heimischen Wohnzimmern an den Konsumenten. Ganz heimlich war die Welt zu einer einzigen Reality Show geworden. Eine digitale Version dessen, was die Menschen ihre Geschichte nannten. 

Sie waren alte Freunde. So alt, dass ihre Freundschaft weit in vergangene Tage reichte und sich über verschiedene Episoden ihres Lebens hinzog. Ein gemeinsamer Blick in schon gelebte Leben. Viele Geschichten tummelten sich in ihren Köpfen. Geschichten von früheren Zeiten und den stetigen Veränderungen einer Welt, die sie beide teilten. Es war nicht die erste Veränderung, die sie gerade erlebten. Die Vergangenheit trug einige dieser Erfahrungen mit sich. Einige Wiederholungen ein und desselben Dramas. Die Komik dahinter lag in der ewigen Wiederkehr des Gleichen mit jedoch ständig wechselnden Charakteren. 

Irgendwann ergab sich ihn ihrem gemeinsamen Weg ein Gespräch. Eines von vielen. Jenes war jedoch beständiges Thema immer wiederkehrender emotionaler Situationen, in denen beide einer romantischen Hoffnung erlagen. Diese Momente ergaben sich häufiger als man vielleicht dachte, denn die Gelegenheiten mehrten sich, wenn man Wege fand, die einen mit Gelassenheit begleiteten. So beispielsweise als sie einem unvergleichlichen Frühlingsmorgen zum Opfer fielen, während sie sich von der im Morgentau schimmernden Röte einer gerade aufgehenden Sonne dahinschmelzen ließen und sich so der kindlichen Träumerei einer utopischen Welt hingaben. 

Auch waren die Sterne gerne bereit Anlass zu solch einer Stimmung zu geben. Seit die Flugzeuge nicht mehr flogen, war der Himmel klar geworden. Das ließen sich die funkelnden Lichter am Firmament nicht zwei Mal sagen. Durch den verringerten Smog in der Luft reflektierte sich das Licht der Städte nicht mehr und öffneten so den Blick für jene ewigen Beobachter, die zwar schon seit Menschengedenken zu den Geschehnissen auf Erden schwiegen, nicht jedoch einfach nur untätig zusahen; ihre ewige Position gab Stabilität in einer Zeit, in der Das Chaos die Oberhand über die Ordnung hatte. 

Wie dem auch sei. Sie waren schon den ganzen Tag gelaufen. Auf leeren Straßen. Durch leere Städte. Seit kurzer Zeit waren die Menschen ruhig geworden und ihnen begegnete seit einigen Metern schon lange niemand mehr. Zwar gab es bestimmte Hot Spots, Orte, an denen sich noch einige tummelten. Beim Einkaufen oder irgendwo in einem Stück privater Sonne. Doch im Großteil wirkten die einst so wuseligen Plätze wie ausgestorben und allmählich wurde den ersten klar, dass es wohl nicht nur um den Virus ging, der alle in Schach hielt, sondern um die Angst.

ARISTOTELES: „Es ist irritierend zu sehen, was passiert. Ich sehe Verhalten, das mich in meinem Innern zwickt. An Stellen, die sich für mich nicht schlüssig erklären, aber zweifelsfrei da sind. Kürzlich ist mir zu Ohren gekommen, als ich gerade aufblickte und in eine Richtung schaute. Da sah ich einen Mann. Er hatte spezielle Kleidung, etwas, das zurzeit öfter zu sehen ist. Jedenfalls vernahm ich, wie er sich über jene beklagte, die sich der neuen Kleiderordnung widersetzten. Er meinte, es würde Zeit, dass endlich eine Pflicht hierfür eingeführt werde. Verstehst du? Ich kann nicht anders als an Tage zu denken, in denen es ebenso Pflicht war, ein bestimmtes Erkennungsmerkmal zu tragen. Und nicht nur da. Das Kennzeichnen von Unterschieden ist in jeder angespannten Situation ein übliches Mittel. Ich kann also nicht anders als dies zu bemerken. Es birgt ein gewisses Risiko, solche Vorschläge zu machen.“ 

PLATON: „Ich sehe, worauf du hinauswillst. Auch mir sind die Veränderungen der jüngsten Tage nicht unbemerkt geblieben. Zum Beispiel vernahm ich eines kürzlichen Morgens, dass man sich über die Bewegungsfreiheit sorge, daher überlege man sich, die Standorte der Bürger zu dokumentieren. Zu jeder Zeit. Um so die Freiheit zu garantieren, ohne Angst leben zu können. Auch habe ich gelesen, dass andernorts, jedoch gleich hier in der Nähe, das Recht auf Freiheit aller Menschen an nur einen Mann übertragen wurde, sodass dieser eine Mann über alle Schicksale dieses Landes auf einmal entscheiden kann. Dadurch ist er besser vorbereitet und man braucht keine Angst davor zu haben, überrascht zu werden. Außerdem, so hat man es mir erzählt, würden Meinungen, die von der allgemeinen Meinung abweichen, öffentlich in eine einzige Schublade gesteckt, sodass sie zusammen mit allem anderen über einen Kamm geschert werden. Abgestempelt sozusagen. Aus Angst vor Falschnachrichten. Daher werden alle Meinungen jetzt sehr vorsichtig geprüft und manche gleich entfernt.“ 

ARISTOTELES: „Stell dir vor, das ist nicht nur hier und andernorts so, sondern überall. Dadurch ist jeder so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass alle auf einmal machen können, was sie wollen. Zum Beispiel beschließen sie Regeln, obwohl sie noch gar nicht an der Reihe sind. Vielmehr setzen sie sich einfach über die Regeln hinweg, die wir gemeinsam beschlossen hatten. Aus Vorsicht vor der Angst. So beschloss ein Machthaber, einfach die Regeln ganz an sich zu reißen und neue zu schreiben. Noch nicht hier bei uns, aber bei unseren Nachbarn. Hier bittet uns nur jemand den anderen zu melden, wenn er sich nicht an die neuen Regeln hält. Ich denke, er meint es sicherlich nett. Schließlich sorgt er sich um die Gesundheit von uns allen. Allen voran um die von den Randgruppen. Daher haben die Älteren die vergangenen Jahre immer mehr zurücklassen müssen, um vorbereitet zu sein, jetzt auf alles zu verzichten. Genau wie das Rückgrat unserer Gesellschaften beständig am Limit gehalten wurde, um nun die erlösende Grenzerfahrung zu machen.“  

PLATON: „Kannst du dir das vorstellen? Angeblich soll bald schon ein Mittel kommen. Eines, dass den Menschen die Angst nimmt. Es soll dir in deinen Körper gespritzt werden. Sie reden auch darüber in diesem Zusammenhang gleich ein kleines Metallteil hinzu zu tun, zumal der Kopf hinter beiden praktischerweise derselbe ist. Damit kannst du dann Waren tauschen, anstelle von diesem anderen Tauschmittel aus Papier. Außerdem bräuchtest du dann auch deine anderen Papiere nicht mehr. Das ist dann alles auf diesem Metallteil. Das kannst du dann auch nicht mehr verlieren, oder verlegen. Das wurde in der Vergangenheit an Hunden und anderen Tieren getestet. Zusammen mit den geplanten Antennen wird es dann kein Problem mehr sein, wenn du dich verloren hast, da du dich bis auf den Zentimeter genau wiederfinden kannst. Dabei sollen die neuen Antennen so viele Wellen in unseren Alltag senden, dass wir davon warme Köpfe bekommen und daher manchmal überhitzen. Das hilft jedoch, dann nur die Auffälligen von uns in Sicherheit zu bringen. In speziell abgeschottete Zonen, wo sie vor den anderen keine Angst mehr haben müssen und sich abkühlen dürfen. Es heißt, dass diese Wellen deine Stimmung beeinflussen und so wird es einfacher werden, deine Stimmungsschwankungen in den Griff zu bekommen.“ 

ARISTOTELES: „Mhm, manchmal frage ich mich, wo das noch alles hinführen soll. Ich meine, ist es das, was Freiheit ist? Die Verantwortung für das eigene Leben aus Angst vor dem Tod in die Hände von Algorithmen zu legen. Was soll mit jenen geschehen, die ihre Freiheit in der Abwechslung des Lebens finden? Jene, die sagen, ich will manchmal nicht wissen, wo ich bin und auch nicht wollen, dass es sonst jemand weiß. Jene, die gerne aus einer Lust heraus leben und mit spielerischer Hand ins Detail gehen. Wo werden sie dann noch frei sein können?“ 

PLATON: „Das ist eine gute Frage. Sie erinnert mich an etwas, dass wir vor langer Zeit einmal gesehen haben. Du weißt vielleicht noch, es gab eine Zeit, als jene von den anderen unterschieden wurden. Das geschah schon oft. Erst wird ein Erkennungsmerkmal vereinbart. Ein Kleidungsstück, ein Stempel, eine Uniform, eine Nummer, ein Wert. Dann erhalten unterschiedliche Bewertungen, unterschiedliche Befugnisse. Erinnerst du dich? Diese Zonen, in denen die einen das durften, und die anderen das. Es gab dann auch irgendwann Belohnungen, um die Unterschiede noch deutlicher zu machen. Jene also, nach denen du fragst, werden dort frei sein dürfen, wo die anderen es ihnen erlauben. Im Rahmen ihrer Möglichkeiten. Das geschieht auch jetzt schon. Denke an den Nachbarn in der Ferne, von wo die Angst ihren Lauf nahm…“ 

Der Weg hatte eine Kurve eingeschlagen. Führte vorbei an leeren Geschäften und geschlossenen Restaurants. Gleichzeitig huschten immer wieder Vögel vorbei oder andere Kleintiere, die sich aufgrund der ausbleibenden Menschenmassen ins Freie trauten, um sich an menschenleeren Plätzen als Sonnenanbeter darzubieten. Zu ihrer Linken löste sich ein letztes Wahlversprechen von der Reklamewand. Der Slogan: „Wählen Sie uns. Wählen Sie Sicherheit!“ hing geknickt im Wind und erinnerte traurig daran, dass es auch hier wohl wieder nicht zur Erfüllung dieses Versprechens kommen würde. 

ARISTOTELES: „Nun mein lieber Freund, es war mir immer eine Ehre, den Weg mit dir zu teilen. Auch sind wir nun schon ein ganzes Stück gemeinsam unterwegs und wir haben wahrlich vieles gesehen. Vieles, dass sich in die Netzhaut meiner Augen eingebrannt hatte, weil das Bizarre in ihm so widersprüchlich zu dem ist, was sich gut anfühlt. Ich denke, du verstehst mich, wenn ich frage, werden wir der Angst wie eh und je den Kampf ansagen oder werden wir den Kampf dieses Mal ruhen lassen können?“  

PLATON: „Das wiederum ist keine einfache Frage. Erinnerst du dich noch an dieses eine große Unglück mit den Flugzeugen und den Türmen? Dies war einer der großen Ereignisse in letzter Zeit, das uns alle in Angst versetzt hat. Seit diesem Tag sind wir mehr noch als vorsichtig. Wir haben aufgrund dieses Erlebnisses beschlossen, der Angst den Kampf anzusagen. Interessant ist, dass wir uns durch solche Geschehnisse auch leichter beeinflussen lassen. Die Angst ist ein wirkungsvolles Mittel, um über andere zu bestimmen. Denn aus Angst und Unsicherheit gehorcht der Vorsichtige, der ohne Aufklärung lebt. Da fällt mir ein, hast du gehört wie die neusten offiziellen Entwicklungen zu diesem damaligen Unglück verlaufen? Es gab eine interessante Untersuchung von einer Universität aus Alaska. Erst vor ein paar Monaten. Sie hat festgestellt, dass der Einsturz so perfekt lief, als sei er aus einem Drehbuch. Leider ging die Meldung unter, da sie offensichtlich nichts mit der aktuellen Lage zu tun hat.“ 

ARISTOTELES: „Du deutest damit etwas an, habe ich recht?“ 

PLATON: „Nun, es ist nicht das erste Mal in unserer Geschichte, dass die Regierenden einen Teil der Informationen für sich behalten. Seit jeher sind dies die Schutzmaßnahmen der Reichen und Mächtigen in unserer Welt. Nur wer über ausreichend Information verfügt, kann die Situation umfassend beschreiben. Dadurch, dass manche Informationen jedoch ausbleiben oder sogar bewusst gestreut werden, entsteht eine Gesellschaft, die aus Informationsmangel und Überschuss an anderer Stelle nicht über jene Informationen verfügt, die sie bräuchte, um eine Situation umfassend beschreiben zu können. Wissen ist Macht, erinnerst du dich?“ 

ARISTOTELES: „Ah, ich sehe, wo das hinführt. Etwa so wie sich unsere Sprache immer stärker verändert? Mir ist aufgefallen, dass sich die Sprache unsere Gesellschaft verhärtet. Durch die Medien und Mitmenschen werden nun wieder Begriffe verwendet, die mich an graue Vorzeiten erinnern. Begriffe wie „Kampf gegen…“, „Quarantäne“, „Abschottung“, „Flüchtlinge“, „Krise“. Ich beobachte immer stärker, wie die Sprache, die wir sprechen unser Denken widerspiegelt. Ich sehe also, wie sich unser Denken auf Begriffe des Konfliktes verhärtet und dadurch Andersdenkende mit aller Härte vor diesen Konflikt stellt.“ 

PLATON: „Ich teile deine Beobachtung. Es ist nicht überraschend zu sehen, wie sich die Dinge entwickeln. Ist es wirklich nicht. Es ist das, was wir immer schon gemacht haben, wenn eine Krise war. Eine Krise war schon zu antiken Vorzeiten schlicht ein Riss in der Wirklichkeit. Ein Knick in der Optik. Ein Spalt in der Realität. Ein Moment, indem das Alte aufbricht, um sich aus sich selbst heraus durch den sich öffnenden Spalt neu zu erschaffen. Jedoch birgt sich in diesem Neuen nur für denjenigen das Gute, der es wagt, voller Mut und Zuversicht in den Spalt zu blicken. Alle, die aus Angst vor dem sich auftuenden Abgrund zurückweichen und die Augen verschließen, werden nicht merken, wie er auf sie zukommt und sie verschlingen wird. Daher war in diesem Zusammenhang auch beständig jener der Gewinner, der von der Angst der Menschen profitiert. Der Glaube an eine höhere Macht. Und selbstredend jene, die diesen gut zu verkaufen wissen.“  

ARISTOTELES: „Meinst du mit Glauben das, was in der Kirche praktiziert wird? Denn so wie ich es sehe, braucht es keine Religion um Glauben zu können. Zumal die Praktiken der Kirche sich in jedem Jahrhundert stark von den Glaubenssätzen ihrer eigenen Verfassungen unterscheiden. Einmal sind es Kreuzzüge, ein anderes Mal die Verfolgung der Frauen. Heute sind es Kinder, was es auch nicht besser macht, sondern nur noch mehr bestätigt, dass diese Institutionen aus der Angst heraus existieren und diese ausnutzen, statt sich an die eigenen zehn Gebote zu halten. Sicher, es mag nicht alle betreffen, die sich hierin bewegen. Doch insgesamt schürt das weniger das Vertrauen als mehr das Misstrauen gegenüber der Kirche und letztlich, wenn wir an die dazu gehörige Regierung denken, auch gegenüber dem Staat.“  

PLATON: „Sicher, ich meine damit nicht die Kirche. Die Religion nutzt Krisen nun auch schon seit jeher für ihre Machtbereicherung, genau wie die Regierenden. Krisenzeiten präsentieren nun mal das, was sich in ihre Mitte, ihrem Spalt offenbart. Die Wahrheit hinter der Illusion von Wirklichkeit. Schließlich leben wir alle in unserer eigenen Welt, doch gerade jetzt wird uns klar, dass wir zudem noch eine gemeinsame Welt teilen und in der läuft es alles andere als gerecht. Misstrauen und Lügen wohin man blickt. Alles scheint völlig willkürlich, weil sich die Expertenmeinungen mit den Alltagserfahrungen streiten und am Ende der Eindruck bleibt, jeder erzählt nur, was er will und schlussendlich hat keiner eine Ahnung. Denn selbst die Regierenden, oder jene die aus der Angst heraus profitieren, sind nichts weiter als ebenso Marionetten derselben Angst, denn sie brauchen die Angst, um ihre Macht zu erhalten. Doch ist die Macht aus Angst eine andere als die der Wertschätzung und Liebe. Und gerade hier fehlt es einfach noch ein bisschen an Verständnis. Vor allem wenn ich hierbei an die Religionen denke. Zwar steht es so in ihrer Agenda, mit Liebe und allem, aber bevor hierüber nicht alle Kämpfe gewonnen sind, wird mit Angst regiert anstelle von Liebe. Machiavelli wäre stolz auf uns, wenn er das sehen könnte.“ 

Inzwischen waren sie aus den Straßen der Ortschaft heraus. Schlenderten über Feldwege und fanden sich einer allmählich sinkenden Sonne gegenüber, die sie mit orangenen Tönen in den Abend begrüßte. 

ARISTOTELES: „Das ist vielleicht der einzige wirkliche Widerspruch in unserer Welt. Der, dass die Menschen Liebe wollen, aber Angst sähen. Wäre es nicht das sinnvollste, wenn ich keinen Kampf will, schlicht auch nicht zu kämpfen? Doch wie ich vorher bemerkte, unsere Sprache verrät unser Denken. Und unser Denken denkt so häufig gegen etwas. „Gegen Terror, gegen Virus, gegen die Anderen, gegen Veränderung...“ Sicher, das sind alles Ängste, aber soweit ich weiß, werden Ängste in Konfrontationen gelöst und nicht dadurch, dass man sich gegen sie stellt. Wer seine Ängste ignoriert, wird sie nicht überwinden, sondern nur vor ihnen davonlaufen und dadurch zu ihrer Marionette. Klar, dass sich diese Situation leicht zu anderen Zwecken ausnutzen lässt. Aus Sicherheit versteht sich.“ 

PLATON: „Zumal derjenige, der sich der Angst ermächtigt, um zu regieren, sich am Ende selbst vor der eigenen Machtlosigkeit fürchtet. Fürchtet, da er sich der eigenen Ohnmacht gegenübersieht, dem Unausweichlichen nicht von der Schippe springen zu können. Am Ende sterben wir alle irgendwann und irgendwo. Daran ändern auch okkulte bis weit in die Geschichte zurückreichende Zeremonien nichts. Denn selbst blutige Menschenopfer haben die Herrschenden nicht unsterblich gemacht. Vielmehr sind sie dadurch in die Geschichte als dasjenige eingegangen, was sie letztlich auch waren: Tyrannen. Kein Andenken, das mein Haupt auf ewig zieren soll. Aber gut, die Interessen liegen manchmal weit auseinander und schließlich muss jeder für sich selbst entscheiden, wie er sein Leben erleben will. Leicht und unbeschwert oder unter der Tyrannei der eigenen Unzulänglichkeiten.“ 

ARISTOTELES: „In Anbetracht der aktuellen Situation, was schlägst du also vor?“ 

PLATON: „Nun, das, was wir immer schon getan haben. Weitermachen! Doch die Frage, die sich stellt, ist, wie wollen wir weitermachen? Einfach so, wie wir aufgehört haben? Das wird nicht mehr funktionieren. Denn es hat sich bereits jetzt schon das meiste verändert und wirklich funktioniert hat es ohnehin nicht. Die Inflation wird das aussterbende Papiergeld erledigen. Das Homeoffice den Nine to Five Job ersetzen. Das digitale Lernen das Schulsystem. Und das alles zusammen unsere digitale sowie physische Existenz. Letztlich wird auch die Wahrheit die Medien verändern und alle die darin verwickelt sind. Denn wer sich so offensichtlich in Widersprüche verstrickt wie die öffentliche Meinung, der durchschaut am Ende das Theater und stellt fest, auch hier ist alles nur Ablenkung.“ 

ARISTOTELES: „Was meinst du mit Ablenkung, gibt es denn gar keine gesicherte Wahrheit?“ 

PLATON: „Die Wahrheit ist, es gibt keine Wahrheit. Die Wahrheit ist, dass seit ewigen Zeiten ein Gespräch geführt wird. Ein unendliches Gespräch mit unzähligen Sprechern, das konzentrisch, im kreiselndem Winkel des goldenen Schnittes um das einzig Wahre herumtanzt und dabei versucht, einen gemeinsamen Konsens zu finden. Aber die Wahrheit ist, dass es diesen gemeinsamen Konsens nicht gibt. Die Wahrheit ist, es gibt unzählige Wahrheiten und keine davon ist im Recht. Letztlich geht es irgendwie darum, das Leben zu leben. Und das Leben wächst mit seinen Widerständen. Wer sind wir, dass wir uns gegen diese fundamentale Eigenschaft des Lebens wehren, obwohl wir doch alle lebendige Teile davon sind? Vielleicht der Widerstand selbst, um an uns selbst zu wachsen? Letztlich geht es darum, dass egal was um dich herum passiert, du entscheiden musst, ob du dich als Schöpfer über die Situation ermächtigst, oder in Ohnmacht untergehst. Denn am Ende weiß auch derjenige, der die Fäden in der Hand hat, nicht, was er da eigentlich macht. So ist die einzig wahre Schlussfolgerung: wenn niemand weiß, was zu tun ist, dann ist es deine Entscheidung, was wahr ist. Alles andere ist nur Ablenkung." 

ARISTOTELES: „Aber würde das nicht bedeuten, das alles egal ist? Dass ich machen kann, was ich will und hierfür sozusagen keine Konsequenzen zu fürchten habe? Gibt es denn nicht das Eine, das einem sagt, dass man das Richtige tut? Etwas, das einem Seelenfrieden gibt, wenn man darauf verzichtet, seinen ersten Impulsen nachzugeben?“ 

Zwischenzeitlich hatte sich das Orange allmählich in ein abendliches Rot gewandelt. Das Licht erhellte die gesamte Situation in einer leidenschaftlichen Romantik und verwandelte so die Stimmung. Eine Laune, die an andere Romantiker des Abendlandes erinnerte. In Anbetracht der untergehenden Sonne, im Hinblick auf den Untergang. Es lag etwas in der Luft. Eine Krise. Ein Wandel, Eine Verwandlung. Die Ruhe vor dem Sturm, den ein leichtes Knistern in der Luft verriet. Das Abendland. Ein Land voller Geschichten, die erst im abendlichen Untergang so richtig zur Geltung kamen. Eine Kultur, die dazu verdammt war, erst im Weltzweifel die wahre Größe zu erschaffen, um in sich selbst zu Grunde zu gehen. Eben wie Romeo und Julia, aber das ist nicht das worauf es jetzt ankommt… 

PLATON: „Sieh dir dieses Abendrot an. Es ist das Licht, in welchem der Geist des Abendlandes erstrahlt. Der Geist, der uns über die Geschichten der Menschen bis hierhergebracht hat. Der Geist, der die Demokratie erschuf, die Philosophie. Die Aufklärung. Den Sonnenkönig, den Gedanken nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Unsere Zivilisation, den Buchdruck auf dessen Grundlage so viele Werke in heimische Regale gefunden haben und ach was soll ich sagen, eben die ganze abendländische Kultur. Und wenn wir hierbei eines gelernt haben, dann, dass wir im Anblick des bevorstehenden Untergangs die Dinge in einem anderen Licht betrachten und so Geschichte schreiben.“ 

ARISTOTELES: „Also würdest du sagen, es läuft alles nach Plan?“ 

PLATON: „Absolut! Der ist zwar unerfindlich, aber was macht das schon. Offenbar hätte es für uns schlechter laufen können. Daher schätze ich, dass das Auffinden dieses Planes auch nicht davon befreit, seinen eigenen Weg zu gehen. Am Ende unterliegen wir alle den Launen des großen blauen Planeten und dem stillen Blick ewiger Sterne.“ 

Sie gingen noch. Noch weit in die Nacht hinein. Der Tag war zu Ende. Die Sonne untergegangen. Die Nacht war hereingebrochen und kühle Luft legte sich über das Chaos, das sie hinter sich gelassen hatten. Über ihnen öffneten sich ganze Galaxien an Welten und die Ewigkeit des Alls empfang sie mit beruhigender Hand auf ihren Köpfen. Letztlich ist es immer das Gleiche. Das unendliche Auf und Ab aus Werden und Vergehen. Aus Leid und Freude. Komik und Tragik. Am Ende ist all das Ablenkung. Am Ende sind wir alle Nichts auf der Leinwand der Existenz. Doch gleichsam sind wir auch die Farbe, mit welcher sich unser Weltgeschehen abzeichnet. Aus der Nummer kommt man nicht raus. Und wer die Angst vor dem Nichts überwindet, der hat auch vor Nichts mehr Angst. Es ist nicht die erste Veränderung, nicht die erste Verwandlung. Es ist Evolution. Wenn aus einem veraltetem System ein neues wird. Aus einem Destruktiven ein Konstruktives. Einem Chaotischen ein Harmonisches.

ARISTOTELES: „Gute Nacht, alter Freund, wir sehen uns, wenn die Sonne wieder scheint. Wenn sie aufgeht und das Land im Lichte einer neuen Sonne erwacht. Im jungen Leuchten einer gerade aufgehenden Morgenröte. Gute Nacht, mein alter Freund. Gute Nacht!"