Über Mauern des Geistes

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Der Regen tropfte erbarmungslos auf ihr Haar. Die Seitengasse, in der sie sich befand, sah kaum einladend aus und dennoch stand sie hier fast jeden Tag. Heute regnete es. Kalt und nass. Jeder Tropfen wie ein weiterer Fleck auf ihrer eigentlich weißen Weste. Es war lange her, dass sie hier zum ersten Mal gestanden hatte. Viele Momente, in denen sie gedacht hatte, die Tage würden sich bessern, nur um dann Tags darauf wieder in derselben Situation zu erwachen. Aus Routine, einfach weil sie beinahe jeden Tag hierher kam. Weil sie musste. So sehr, dass sie sich schon lange damit zufrieden gab. So lange, dass sie ihr Schicksal akzeptiert hatte. Auch war es nicht so schlimm. Es gab immer jemanden, dem es schlechter ging und doch fühlte sie tief in ihrer Brust, dass das, was sie tat, nicht das war, was sie tief im Innersten eigentlich wollte. 


Doch wie hätte sie sich anders entscheiden sollen? Umstände zwangen sie wie eiserne Mauern in ihr derzeitiges Leben und drohten beständig näher zu kommen. Sie hatte schon früh erkannt, worauf dies alles hindeutete, worauf es hinauslief. Glück. Das war jenes Lebensgefühl, das ihr und allen anderen die Werbung verkaufen wollte, doch genau wie alle anderen konnte sie sich dieser Illusion nicht mehr hingeben.  

Sie war müde. Müde irgendwelche Rechtfertigungen für ihr Tun zu finden. Sie beschloss einfach derlei Gespräche zu umgehen und sich selbst nicht mehr in die Augen zu sehen. Der Blick in den Spiegel barg immer etwas Schmerzhaftes. Etwas Verräterisches, über das sie sich mit verschlossenen Augen hinweg zu täuschen versuchte. Doch sich selbst zu belügen ist immer eine Rechnung auf Raten. Irgendwann bricht es zusammen, irgendwann holt einen die Vergangenheit ein, allen voran die eigene. 

Tja, und nun? Sie stand immer noch. Wartete. Wartete darauf, dass irgendetwas passierte oder irgendwer etwas von ihr wollte. Doch an einem solchen Tag konnte sich das Warten zu einer kleinen Weile ziehen. Eine kleine Weile, die sie dazu zwang mit sich allein zu sein. Unangenehme Momente. Immer wenn sie so viel Zeit mit sich selbst verbrachte, drangen Bilder aus ihrer Vergangenheit in ihr Bewusstsein. Jene Bilder, die sie jeden Tag vor dem Schlafen gehen zu ignorieren versuchte. Doch gerade im Dunkeln fand sie außer dem kleinen Nachtlicht neben ihrem Bett keine Ablenkung.

Ursprünglich hatte sie anderes im Sinn als dieses Leben. Ursprünglich sah alles etwas heller aus. Man hatte sie gelockt. Versprechungen, die gemacht und dann gebrochen wurden. Irgendwann war jener Tag gekommen. Der erste, der sie an Momente aus ihrer Kindheit erinnerte, in denen sie das Gefühl hatte, fremdbestimmt zu sein. Viel zu früh hatte sie diese Miss-handlungen über sich ergehen lassen müssen. So früh, dass sie irgendwann Gefallen daran fand - keinen echten, sondern schlicht um nicht daran zu zerbrechen. Manchmal ist das die einzige Möglichkeit um zu überleben. Der menschliche Geist ist zu Erstaunlichem in der Lage, wenn es um das Überleben des eigenen Körpers geht. Die Biologie zwingt einen oft genug Kompromisse einzugehen. Vor allem dann, wenn der Geist an Alternativen scheitert. 

Während der ersten Momente in diesen unfreiwilligen Situationen durchflutete sie ein Cocktail an Hormonen. Adrenalin, Cortisol, Noadrenalin. Ein sehr stressiger Trunk, der auf Dauer und in diesen Dosierungen zwangsläufig dazu geführt hatte, dass ihre Schönheit beständig verwelkte. Wie Schimmel auf verblühten Rosenblättern, ermattete ihr Strahlen je länger sie in diesem Leben gefangen war ohne ein Licht am Ende des Tunnels sehen zu können. Das einzige, was an ihre frühere Schönheit erinnerte, war das Dopamin und Serotonin, das sie sich immer wieder einredete. Nicht weil sie naiv war, sondern weil sie überleben wollte. Spaß war hierbei nicht das richtige Wort. Doch vielleicht Frohsinn darüber, einen weiteren Tag überstanden zu haben. Auch wenn dies den Blick für die Zukunft blind machte. Die Zukunft, darunter konnte sie sich nichts vorstellen. Zu groß war die Angst davor, der Wahrheit ins Auge zu sehen und zu akzeptieren, dass dieses Leben keine Zukunft für sie bereit hielt. 

Sie hatte sich dazu gezwungen diesen wiederkehrenden Hormoncocktail zu genießen, so sehr bis sie davon abhängig war. Bisweilen wusste sie nicht einmal mehr, ob sie sich nur nicht mehr wehrte, oder schlicht in eine andere Welt flüchtete wie bei ihren anderen Abhängigkeiten, wobei Nikotin noch die harmloseste war. Anfänglich hatte sie nach Hilfe gesucht. Doch als selbst die Vertreter des Rechtes zu ihren Klienten gehörten, verwarf sie ihre Hoffnungen. Niemand konnte helfen. Einfach aus dem Grund, weil es zu viele Frauen gab, die sich in derselben Position befanden und die Gesellschaft akzeptiert hatte, dass ihre Lebensumstände zu den Problemen eines kranken Systems gehörten. Alles nicht so schlimm, schließlich war das mitunter das älteste Gewerbe der Menschheit, zumindest erzählte man sich das. Demzufolge war man selbst verantwortlich, wenn man dort reinrutschte, einfach weil es schon von Anfang an ein zwielichtiges Milieu war, in dem man sich da bewegte. Selbst schuld also, wenn man mit den Konsequenzen nicht zurechtkam. 

Ihre Gefühle ließen nicht mehr zu, nach Hilfe zu suchen. Zu groß war die Scham, sich erneut den verurteilenden Blicken der „normalen“ Gesellschaft zu unterwerfen. Verständnis fand sie nur bei ihresgleichen, doch damit ebenfalls den stetigen Sog weiter in die schlammigen Tiefen der menschlichen Perversionen. Ihre Klienten waren hierfür das beste Beispiel. Ordentliche Bürger mit ordentlichen Berufen. Offenkundig völlig ordentliche Menschen und doch oder vielleicht gerade hier, die abartigsten „Wünsche“. Während sie selbst kaum jung genug sein konnte, saßen die Frauen mit ihren Kindern zu Hause beim Mittagessen, während der Familienvater seine Mittagspause bei ihr verbrachte. 

Wen traf hier wohl die Schuld? Vielleicht die Gesellschaft? Das System? Ihre Klienten? Sie wusste es nicht, hatte aufgegeben einen Schuldigen zu finden und beschlossen, einfach zu funktionieren. Ohne den Blick in die Zukunft ließ sich das am besten tun, das hatte sie von denen gelernt, die ihre Dienstleistungen in Anspruch nahmen. Zu oft jedoch schreckte sie nachts aus dem Schlaf, als dass sie behaupten könnte, sie würde nichts mehr dabei fühlen. Verschiedene Substanzen sorgten dafür, dass sie sich an die Träume aus der Nacht nicht mehr erinnerte, doch verriet die Feuchtigkeit ihrer Augen, dass sie geweint hatte. 


Wie lange noch. Wie lange noch würde sie hier stehen können? Der Regen trommelte erbarmungslos auf ihren Schädel und erinnerte sie daran, dass sie bald völlig durchnässt sein würde. Doch die eigentliche Frage umfasste weit mehr als nur den heutigen Tag. Schließlich würde sie nicht ewig jung sein. Irgendwann würde der Tag kommen, an dem sie schlicht keine Klienten mehr auf sich aufmerksam machen konnte. Abgeschoben durch Frischfleisch. Junge Mädchen, die auf die gleiche Weise in diese Welt gerieten, wie sie damals. Mädchen mit ähnlichem Schicksal wie ihr eigenes, doch eben mit frischerem Glanz. 

Sie schüttelte den Kopf. Verwarf den Gedanken daran, was zwangsläufig kommen würde. Eigentlich suchte sie nicht nach einer Antwort. Eigentlich wusste sie, dass sie bald noch weniger zum Leben haben würde, als jetzt. Bald würde die Straße das einzige sein, was ihr noch blieb. Sie schluckte. Diesmal wollte sich der Gedanken nicht so einfach ignorieren lassen. Erinnerungen an früher drangen in die Stille ihres Geistes und erweckten alte Stimmen. Stimmen, die ihr gesagt hatten, sie könne sich neben dem Studium etwas dazu verdienen. Stimmen, die ihr einredeten, dass dies eine gute Idee, eine einfach Methode war, um sich um Geld weniger Sorgen machen zu müssen. 

Zu schnell jedoch geriet sie in die Fänge anderer Interessen. Nachdem sie anfänglich nur die Begleitung spielen wollte, verlor sie sich gleich beim zweiten oder dritten Mal in eine Welt, von der sie bisher kaum etwas wusste. Zwar war ihr bekannt, dass es viele dunkle Gestalten auf der Welt gab, doch eigentlich war sie sich sicher, sie würde es besser machen. Würde cleverer sein. Und doch, kurze Momente nachdem sie die ersten Schritte in der neuen Umgebung gemacht hatte, fand sie sich schon zu tief in Abhängigkeiten und kriminellen Verpflichtungen. Es dauerte nicht lange und sie verschwand allmählich aus ihrem eigentlichen Leben. Verlor den Kontakt zu ihren Kommilitonen, Freunden und letztlich zu ihrer Familie. 


Ihre zunehmende Abwesenheit in den Vorlesungen fiel nur den wenigsten auf. Jene, die sie darauf ansprachen, erzählte sie Ausreden, verstrickte sich in widersprüchlichen Aussagen und brach zuletzt den Kontakt ganz ab. Ihre Freunde hingegen waren hartnäckiger. Einige davon begannen misstrauisch zu werden und unangenehme Fragen zu stellen. Doch auch hier distanzierte sie sich allmählich, bis nur noch wenige den Kontakt zu ihr aufrecht hielten. Schlussendlich brach sie sich selbst das Herz, als sie ihrer eigentlichen Liebe einen Schlussstrich durch die Rechnung machte. 


Als sie hier ankam, hatte ihre Welt den Sinn verloren. Die Bedeutung. Die Liebe. Von hier aus war es ein Leichtes, sich der eigenen Familie zu entziehen. Teilnahmslos gestand sie ihrem Vater die Situation, in der sie sich befand, woraufhin dieser sie ohne weiteres verstieß. Sie hatte damit gerechnet. Er hatte schon immer ein seltsames Verhältnis zu ihr und Sexualität im Allgemeinen gehabt. War mitunter ein Grund ihrer Entwicklungen und Urheber der Misshandlungen, denen sie sich wehrlos ausgesetzt sah, da ihre Mutter genauso unter der patriarchalen Tyrannei ihres Mannes litt, wie sie selbst. Und dabei war er selbst lediglich Opfer eines dogmatischen Systems, das sich wie eine Schlange in den eigenen Schwanz biss.

Leben. Sie seufzte schwer. Wie passte das alles zusammen? Wie konnte die Welt so grausam sein? Sie fingerte in ihrer Tasche nach einer Zigarette. Steckte sie sich vorsichtig in den Mund um ihren Lippenstift nicht zu verwischen und suchte weiter nach einem Feuerzeug. Als sie es endlich fand, tropfte ein dicker Regentropfen direkt auf den Zündstein und verhinderte so das Entflammen des Gases. „Fuck“. Sie fluchte. Warf das Feuer wie die Zigarette wütend zu Boden. Dies war der Moment, in dem sie ihre Deckung aufgab, nachgab, und so viele angestaute Gefühle einfach aus ihr herausbrachen


Tränen quollen unkontrolliert aus ihren Augen und verwuschen das, was der Regen bislang von ihrem Eyeliner verschont hatte. Schluchzend und fröstelnd kauerte sie sich zusammen, ging in die Knie, bis sie nur noch wie ein zuckendes Häufchen Elend auf dem Boden kauerte. Es vergingen einige Momente in dieser Position, sie vermochte nicht zu sagen, wie lange. Sie vermochte überhaupt nichts mehr zu sagen. Sie war angekommen, angekommen am absoluten Nullpunkt ihres Lebens, ihrer Welt und damit ihrer ganzen Existenz. Nur einen Atemzug, einen Herzschlag davon entfernt endlich loszulassen und endlich im Nichts der Unendlichkeit zu verschwinden. Der Tod, die süßeste aller Verlockungen. 

Plötzlich spürte sie wie der Regen aufhörte, auf sie einzuhämmern. Vorsichtig drehte sie ihren bisher vergrabenen Blick nach oben und erkannte Schuhe. Keine besonderen, ganz normale Sneaker, deren Spitzen auf sie zeigten. Weiter oben die dazugehörigen Hosenbeine und noch weiter oben den Rest der männlichen Gestalt, die vor ihr stand. Großartiges Timing, dachte sie sich im Stillen und stand auf. 


Der Mann hatte einen Regenschirm über sie gehalten. Der offensichtliche Grund dafür, weswegen der Regen nur bei ihr aufhörte. 


„Entschuldige bitte mein Aussehen“, flüsterte sie mit einem künstlichen Lächeln, um die Situation weniger unangenehm wirken zu lassen. Sie fühlte sich schwach, verletzlich und auf besondere Weise ertappt. Sie hatte nicht damit gerechnet, in ihrem Ausbruch unterbrochen zu werden. Schon gar nicht hier. Hier Schwäche zu zeigen, konnte alles bedeuten. Gelegentlich war dies einer der Gründe, weshalb die Frauen eben genau so behandelt wurden. Wie Opferlämmer dargeboten auf einer Schlachtbank. Schwach und wehrlos. Genau das, worauf gewalttätige Energien standen, wenn sie sich nachts im Dunkel austobten. 


Hallo“, flüsterte eine Stimme, die ihr schlagartig alle Sorgen vertrieb. Eine Stimme, die sie kannte. Seine Stimme. 


Sie richtete den Blick auf, suchte im schattenhaften Gesicht vor ihr nach Vertrautem und verschwamm in ihrem eigenen, tränenverhangenen Blick. 


„Ich habe dich gefunden“, flüstere die Stimme erneut, bevor die Gestalt näher kam und sie in ihre Umarmung schlang. Sie atmete tief, wollte sich wehren, doch als sein Geruch in ihre Nase strömte und sie direkt im Herzen traf, gab sie alle Bedenken frei und ließ sich fallen. Welle über Welle strömte aus ihr. Tränen, die sie so lange zurück gehalten hatte, und sich nun endlich zugestand. Jede davon ein eigenes Schicksal, jede davon eine eigene zerbrochene Welt, die nun endlich heilen durfte. 


Ein Traum. In der Umarmung lag etwas Leichtes. Etwas Traumhaftes. Etwas, das so lange auf sich hatte warten lassen, und endlich doch noch eingetroffen war. Am Ende wird alles gut, und ist es das nicht, dann ist es auch nicht das Ende. Sie fühlte ihr Herz. Fühlte, wie alte Brüche allmählich heilten und ein Hauch von Liebe zurück in ihre Seele fand. Als ob sich die Welt für einen ewigen Moment der Zeit von der Bildfläche verabschiedete und nur noch sie und die Schulter, an der sie weinte, zurückließ. Licht erfüllte ihre sonst so dunklen Gedanken. Wärme, die durch ihre Glieder strömte. Energie, die ihr ganzes Dasein erfüllte. 


Manchmal ist loslassen das einzige, was ein Mensch noch tun kann. Sie fühlte sich leicht. Als würde sie schweben. Der Regen war versiegt, genau wie das Dunkel um sie herum. Die Wärme war zurückgekehrt und Empfinden machte sich in ihrem Dasein breit. Sie war glücklich. Einfach glücklich. Keinen Gedanken daran verschwendend wie es weiter gehen sollte, was noch kommen würde, gab sie sich ihrer innersten kindlichen Freude hin und vertiefte sich weiter in die Richtung, aus der das Licht kam. 


Sie löste sich von ihm, suchte in seinen Augen nach Sicherheit und fand sie in seinem Blick. Er strich ihr das Haar aus dem Gesicht. Küsste sie sanft auf die Stirn und streichelte ihr behutsam über den Kopf. „Es gibt keinen mehr Grund, sich zu sorgen, ich habe dich wieder. Du bist wieder bei mir. Wir sind wieder eins.“


Seine Worte trafen sie an einem Punkt, den sie für verloren geglaubt hatte. Erweckten Empfindungen, von denen sie dachte, sie würde nicht mehr im Stande sein, diese zu fühlen. Erneut blickte sie in seine Augen und lächelte. 


„Lass uns gehen“, waren seine letzten Worte. Daraufhin hatte er sie geküsst, sie bei der Hand genommen und sie einfach mitgenommen. Sie hatte keine Bedenken gehabt, es gab nichts, was sie hier noch hielt. Wie auch hätte sie gegen die süßeste aller Verlockungen ankämpfen sollen? Sie war glücklich. Ein Gefühl, das sie beinahe verloren hatte. Der Preis dafür war bezahlt - und sie, sie endlich frei


Zu einem anderem Zeitpunkt sollte man ihren Körper finden. Eben an jener Stelle, an der sie zuvor kauernd in die Knie gegangen war, schluchzend und fröstelnd, und überhaupt nichts mehr zu sagen vermochte.

Eben an jener Stelle, an der sie angekommen war. Angekommen am absoluten Nullpunkt ihres Lebens, ihrer Welt und damit ihrer ganzen Existenz. Nur einen Atemzug, einen Herzschlag davon entfernt, endlich loszulassen und endlich im Nichts der Unendlichkeit zu verschwinden.

Der Tod, die süßeste aller Verlockungen, und dabei die intensivste aller Umarmungen.