Über das Leben und andere "Kleinigkeiten" 

“Worum geht es hier eigentlich?”

Dieser Satz beschäftigte sie schon seit einigen Momenten. Sie konnte sich nicht mehr daran erinnern, woher sie ihn hatte, doch er hatte sich in ihren Kopf eingebrannt. Flackerte beständig auf und legte sich wie ein Filter auf die Ereignisse der Welt um sie herum. Der Blick in die Gesellschaft verriet darauf keine Antworten und vielleicht war es gerade diese Gesellschaft, welche diesen Gedanken so vehement in ihren Schädel hämmerte. 

 

Sie hatte gelernt. Viel. Ihr ganzes Leben lang. Doch was sie gelernt hatte, half ihr nun nichts mehr. Irgendwann war der Punkt gekommen, indem sie einen Schritt zurück machte. Stehen blieb um für einen Moment durchzuatmen. Die Dinge wirken zu lassen und sich selbst auszuruhen. Dabei war es ihr aufgefallen. Die Unsinnigkeit ihrer Existenz. 

 

Innerhalb dieser Erkenntnis, von der sie sich gerade zu erholen versuchte, tauchte plötzlich dieser Satz in ihrem Kopf auf und war seither zum Leitfaden ihres Alltags geworden. Sie versuchte Antworten zu finden in den Dingen, die sie gelernt hatte, doch jene hatten sie lediglich auf ein Leben in perfekter Funktion in einem imperfekten System getrimmt. Nichts also, was Hand und Fuß hatte oder irgendwie größere Zusammenhänge offenbarte, als die tägliche Routine. Und dabei schien das nicht alles zu sein. Letztlich hatte ihr bis heute keiner eine Antwort darauf geben können, wer sie eigentlich war. Woher sie kam und wohin sie wollte. Sicher wusste sie ihren Namen und den Tag ihrer Geburt, doch was war davor? Was würde nach ihr kommen? 

 

Sie begriff sich in diesen Momenten nicht mehr als Individuum. Nicht mehr als das, was sie dachte zu sein. Sie begriff in jenen Momenten schlicht überhaupt nichts mehr. Hineingeboren in eine Welt, deren Kontext sie nicht sehen konnte. Hoffnungslos im Bezug darauf, hinter allem einen Sinn zu finden um doch noch Grund zum Leben zu haben. Gleichzeitig spürte sie dieses Gefühl, das aus der Mitte ihres Herzens kam. Ein Hauch davon, sich selbst als mehr zu begreifen, als nur die Summe der eigenen Erinnerungen. 

 

Nicht dass sie müde war, sie liebte das Leben, doch verstand sie schlicht den Sinn davon nicht. Jenen Sinn, der ihr erklären konnte, warum sie auch die dunkleren Tage überstehen sollte. Sicher, es gab immer die Möglichkeit etwas aus dem eigenen Leben zu machen. Hoch hinaus zu wollen. Doch wozu dann wieder abstürzen? Wieso nicht gleich unten bleiben und das ganze Auf und Ab im Keim ersticken? 

 

Sie erinnerte sich daran, was in ihrem Umfeld passierte. Zerbrechende Beziehungen. Alleingelassene Kinder. Einsame Mütter und von Ängsten dominierte Väter. Platzende Träume und alle anderen Leiden, die ihr schon so täglich um die Ohren flogen, dass sie zwischenzeitlich völlig abgestumpft dagegen war.

“Das ist halt so. Leben ist nun mal kein Zuckerschlecken, kein Ponyhof." 

Toll…, dachte sie sich, während sie den Blick schweifen ließ. Der Tag heute war grau. Undurchsichtig und irgendwie erkannte sie sich darin wieder. Auch heute stand die Frage nach dem Sinn wieder zusammen mit ihr auf. Begleitete sie zum Fenster, an dem sie gerade stand und nach draußen spähte. Legte sich auf ihre Stimmung und verlor sich im Dunst vor ihren Augen. 

 

Schon komisch, schmunzelte sie, da lebt man auf einem großen runden Stein. Ist umgeben von Nichts als Dunkelheit, ohne ein Oben und Unten, und dreht sich um sich selbst während man versucht zu begreifen, warum. Vielleicht war aber gerade das der Grund, weshalb man hierauf keine Antwort bekam, solange man sich mit drehte.  

 

Gleichzeitig drängten sich die Erinnerungen der eigenen Dramen in ihre Gedanken und verlangten nach Aufmerksamkeit. Sie spürte wie Tränen sich ihren Weg an die Oberfläche bahnten und so ihren Blick nach draußen verschleierten. Sie schüttelte den Kopf. Verwarf die Bilder aus ihrer Vergangenheit und fokussierte sich wieder auf das Grau. Das Problem ihrer Generation war schlicht. Die alten Doktrinen funktionierten nicht mehr. Hatten nie funktioniert, doch heute gab es kaum etwas zu tun, das Bedeutung hatte. Unzählige Arbeiten, zu denen sich keiner berufen fühlte und dennoch jeder darin verwelkte wie Rosenblüten im späten Sommer. Ein ganzes Leben im stetigen Hamsterrad der Sinnlosigkeit. Wozu überhaupt Geld verdienen? Klar, weil man muss… Aber nicht mal die, welche die Gesellschaft als erfolgreich bezeichnete, sahen glücklich aus. Nicht verwunderlich eigentlich, wer braucht schon Geld, wenn er tot ist? Doch gerade im Hinblick auf das eigene Ende stellt sich die Frage, warum man da war. 

 

Letztlich treten wir alle irgendwann unserem Schöpfer gegenüber und dann verlangt es nach einer Antwort. Einer Antwort auf die Frage: 

“War es das wert?” 

 

Sie seufzte. Betrachtete die Welt, in der sie sich wiederfand und erkannte den Schlamassel. Kaum jemand, der Vorbild genug wäre, mit solchen Gedanken umzugehen. Die meisten waren so beschäftigt mit ihrem Alltag, dass die Frage nach dem Sinn in den Hintergrund gewandert war. Sicher, schlimmer geht es immer, aber das macht aus Scheisse noch keinen Diamanten. Und das, wo dieser doch selbst im größten Haufen gefunden werden konnte, wenn man nur wusste, wonach man suchen musste. Jedoch bringt das einem keiner bei. Wozu auch. Schließlich muss man ja Geld verdienen. Rechnungen bezahlen. Arbeiten. Alltag eben. Und dann ist es einfach genauso plötzlich vorbei wie es angefangen hat, und was hinterlässt man? Nichts von Bedeutung, außer vielleicht den eigenen Nachwuchs, der dann im gleichen Rad vor sich hinrotiert. Zumindest war sie so hierher gekommen ohne jemals gefragt worden zu sein. 

 

Den Kopf voller Gedanken tauchte sie den Blick nach draußen tief ins Grau und ertrug die Last der schweren Überlegungen, die sie am Boden hielten. Müden Herzens sah sie ihre Zukunft im Gesicht der Mitmenschen und schluckte. 

 

Plötzlich und genau in jenem Moment, landete ein schwarzer Rabe auf der anderen Seite ihrer Fensterscheibe und klopfte mit dem Schnabel gegen das Glas. Sie erschrak, dankte aber im selben Atemzug innerlich für die Ablenkung. Der Rabe betrachtete sie während er den Kopf schräg legte. Spähte in ihr Zimmer und anschließend wieder zu ihr. Sie lächelte. Ein Funken in ihren Augen erwachte zum Leben und schien dem kleinen Wesen nicht zu entgehen. 

 

„Tja, da stehen wir nun, getrennt durch eine Scheibe und dennoch auf demselben runden, blauen Ball im All“, flüsterte sie. Der Rabe ließ sie nicht aus den Augen, hüpfte gelegentlich von einem Bein auf das andere. Seine Federn schimmerten sanft im diesigen Licht. Als ob er ihre Gedanken gelesen hatte, breitete er seine Federn aus und präsentierte sich in seiner ganzen Vielfalt. 

 

„Was machst du, was ich nicht mache?“, murmelte sie leise vor sich hin. „Wie bist du so frei und ich bin nur hier drin?“ Der Rabe faltete seine Flügel wieder zusammen und drehte den Kopf zu ihr. Seine Augen waren schwarz wie die Nacht und dennoch erkannte sie ein leichtes Funkeln in ihnen. Ein glitzerndes Licht aus den Tiefen seiner Iris. Der Funke, der ihm das Leben einhauchte und den sie zweifelsfrei auch hatte, solange sie am Leben war. 

 

Das Pochen ihres Herzens wurde stärker und drängte sich in ihr Bewusstsein. Sie spürte, wie nach jedem Schlag eine Druckwelle an Energie durch ihre Adern schoss und bis in die kleinsten Kapillare ihres Körpers vordrang. Je mehr sie sich darauf konzentrierte, desto spürbarer wurde es. Bald schon hörte sie ihren Puls in den Ohren, fühlte wie ihre Fingerspitzen pulsierten und wie ihr Herz immer langsamer wurde. Sie schloss die Augen. Richtete ihre ganze Aufmerksamkeit nach innen und spürte wie das Leben durch ihren Körper strömte. 

 

Vielleicht war es einfach auch gar nicht so wichtig zu wissen, worum es im Leben geht. Vielleicht ist im Leben überhaupt nichts wichtig, außer einfach zu leben. Den Funken im Inneren für etwas brennen zu lassen, denn schließlich lässt sich auch über das Leben nicht mehr sagen, als dass es da ist. Schlicht und ergreifend da, und das in allem, das lebt. 

 

Als sie ihre Augen wieder öffnete, saß der Rabe immer noch da und beobachtete sie. Jedoch war sie es, die sich für einen Augenblick der Zeit verändert hatte und nun mit anderen Augen zurück schaute. Wer war dieses Leben, dass in so vielem um sie herum strömte? Woher kam es? Wohin wollte es? 

 

Der Rabe krächzte zufrieden und schüttelte sich. Nickte ihr aufrichtig zu und begann davon zu fliegen. Verwirrt blickte sie ihm hinterer. Was hatte das zu bedeuten? Hatte sie etwas erkannt? Sie überlegte und begann plötzlich zu schmunzeln. Scheint, als ob das Leben dieselben Fragen hat wie ich, kicherte sie mit einem Hauch von kindlicher Frechheit.

Vielleicht geht es im Leben auch einfach darum, das Beste daraus zu machen, einfach weil es das Leben selbst ist, das nach Entfaltung verlangt.

Sie dachte an den Hamster, der in seinem Rad rannte. Dachte an den Rabe, der ihr gerade noch Gesellschaft geleistet hatte und dann davon geflogen war. 

 

Vielleicht ist das Leben kein Hamsterrad. Dennoch drehen wir uns irgendwo im Universum beständig um uns selbst. Was das bedeutet ist schwer zu sagen, aber wenn du ein Hamster bist, dann renn, wenn du ein Rabe bist, dann fliege und wenn du ein Mensch bist, tja, dann mach das Beste draus, denn selbst der Hamster rennt nur zum Spaß, und nicht, weil er muss. 

 

Zufrieden lächelte sie sich zu. Sie wusste zwar immer noch keine Antwort auf die Frage nach dem Grund, jedoch schien ihr das im Moment auch nicht mehr wichtig. Für einen Moment hatte sie Frieden gefunden. Frieden darin, sie selbst zu sein und das Leben in ihr zu spüren. Sie fühlte sich wie am Beginn einer neuen Reise. Einer Reise ins Unbekannte. Einer Reise, deren einziger Grund die Reise selbst ist. Was passieren wird, das steht in den Sternen und solange man die nicht lesen kann, bleibt einem nichts anderes übrig als raus zu gehen und sich auszuprobieren.

Und wer weiß, vielleicht ist es ja auch gerade das, worum es im Leben geht, es zu probieren.