Über Alltagsmystik

6:45 Uhr. Der Wecker klingelt und kitzelt mich unsanft aus dem Schlaf. Die Tage werden allmählich wieder kürzer. Der Morgen ist also noch dunkel, als ich nach ihm sehe, und so schließe ich meine Augen um sie nochmals auszuruhen. Fünf Minuten später klingelt der Wecker ein zweites Mal. Erneut durchfährt ein Schreck meinen Körper und verpasst mir die zweite Injektion Stress an diesem noch so unschuldigen Tag. Egal. Ich stehe auf, fingere im Halbdunkel nach dem Lichtschalter. Als ich ihn finde, erwacht mein Bewusstsein mit dem Aufgellen des Lichtes. Zwar noch leicht verzögert, aber final nicht mehr bereit in den nächsten Momenten zurück in die Welt des Schlafes überzusiedeln. 

 

Das Leben beginnt von neuem. Ein weiterer Tag. Nicht nur bei mir. 7:00 Uhr ist generell viel los. Der Tag hat noch nicht angefangen, doch die immer wachen Gesellschaften des Menschen haben Zeitarbeit. Ständig ist irgendwo irgendwas los. Alles rotiert und entwickelt sich. Wie ein einziger Frühling produziert die Zivilisation beständig Blüten, ohne dabei jemals richtig zu blühen. Irgendwas ist immer. Aber wie dem auch sei, schließlich sind wir es ja gewohnt, ist ja nichts neues. Irgendwann kam ein sehr fragwürdiger Gedanke in uns auf. Irgendwann war die Farbe der Blüte wichtiger als der Grund ihrer Existenz. Was nutzt einem ein so florierendes Blütenwachstum, wenn es keine Bienen mehr gibt, die sich an ihnen satt essen können? Absolut nichts, außer dass man vielleicht besser geprahlt hat als die Nachbarblüte, das mag schon sein. 

 

Naja, jedenfalls habe ich allmählich den Weg ins Bad gefunden. Die ersten Morgenroutinen liegen schon hinter mir und stehe gerade vor dem Spiegel und putze die Zähne. Vor nicht allzu langer Zeit habe ich angefangen mit links zu putzen. Als Rechtshänder war das anfänglich eine Umstellung, bald aber und nach einigen spannenden Bewegungsabenteuern, schon wieder einstudierte Routine. Mittlerweile stehe ich noch auf einem Bein und habe die Augen geschlossen. Nicht aus Überlegenheit, einfach aus Langeweile. Schließlich stehe ich ja eh jeden Tag hier, verbringe Momente meines Lebens damit, in den Spiegel zu sehen und mich zu fragen wie lange ich schon putze. Hinterher putze. Da kann man es sich auch schön und die Augen zu machen. Oder auf einem Bein stehen. Vielleicht fällt mir auch noch was anderes ein, wer weiß… 

 

Der Mensch ist permanent am Produzieren von Blüten. Alles muss größer, besser, schneller werden. Schon solange, dass er nicht mehr weiß, warum. Aber wie konnte das passieren? Wie kann man vergessen, warum man blüht? Vielleicht aus Routine? Möglich ist heutzutage alles. Es gibt nichts, was es nicht gibt. Ein einziges Meer aus regenbogenfarbenen Blüten. Eine prächtiger als die andere. Alles glänzt und erstrahlt. Und dazwischen, Glas. Kaufhausglas oder unzerbrechliches Gorilla Glas, das beim ersten Sturz aus der Hosentasche doch wieder nur bricht, aber allem voran zunächst einmal trennt. Selbst hier oder vielleicht gerade da spiegelt es so die eigene Seele genau wie ihre eigentlichen Bedürfnisse. 

 

7:15 Uhr. Ich wandle zum Fenster und spähe nach draußen. Allmählich erwacht auch der Garten vor meinem Fenster zum Leben. Erste Sonnenstrahlen spiegeln sich im Tau auf den Blättern. Ein leichter, mystischer Dunst hängt ganz dicht über dem Gras und weicht schreckhaft vor den sich erwärmenden Flächen zurück. Der Sommer ist vorbei. Der Herbst hat heimlich Einzug gehalten und nur der genaue Beobachter vermag zu wissen, in welcher Minute genau es geschah. Ich betrachte die Veränderungen, die mir gerade mehr als deutlich ins Augen stechen. "Ich erinnere mich, als ob es gestern gewesen wäre“, murmle ich, „da war das noch nicht.“ Der Herbst hat seine ganz eigene Schönheit. Er hatte etwas Ordnendes. Etwas Strukturierendes. Der Herbst kann hinter die Fassaden sehen. Er ist es, der die ganze Natur dazu zwingt, die Hüllen fallen zu lassen, um so das wahre Ausmaß des Sommers zu betrachten. Bis auf die immergrünen stummen Tannen, mit denen er sich schon früh einigen konnte, erzählen ihm alle anderen die Erlebnisse und Erfahrungen, die sie den Sommer über gemacht haben. Zu sehen, ist das in den spannendsten Farbkombinationen. Grüne Blätter neben roten, gelben und orangen. Manche von ihnen gefärbt wie Mangos und direkt darunter schon die Gefallenen. Ein reges Durcheinander. Aber gerade deswegen so spannend, gerade deswegen so interessant. 

 

So läuft es immer. Der Herbst ist das mittlerweile schon gewohnt. Und er hört großväterlich zu, wenn seine Schützlinge ihm von den Sommertagen berichten. Der Mensch entzieht sich bisweilen diesen Unterredungen. Routiniert wie immer hängt er in seinem Alltag herum und ist einfach noch nicht so weit. Das ein oder andere ToDo liegt noch in der Arbeit. Manche Theorien sind noch nicht zu einem praktischen Ende gekommen, weil man noch nicht dazu gekommen ist, sie zu bearbeiten. Zum Beispiel die Antwort auf die Frage nach dem Warum? Und warum liegt sie noch auf dem „Zu- Bearbeiten-Stapel“? Weil die eigentliche Frage direkt darauf liegt. Genau wie alles andere, was hinter dem Geld Verdienen anstehen muss. 

 

7:30 Uhr. Allmählich werde ich wach. Wach im eigentlichen Sinne. Die Analytik macht sich in meinem Bewusstsein breit. Eins nach dem anderen. Step by Step drängt sie die Bilder der Nacht aus meinem Geist und füllt ihn mit Kausalität. Jene Kausalität, die gut ist, wenn man sich der Unendlichkeit der Möglichkeiten ausgesetzt sieht, jedoch eher hindert, wenn man etwas Mystisches, etwas Größeres sucht. Um diese Uhrzeit sind die größeren Angelegenheiten tatsächlich aber eher anstrengend. Um diese Uhrzeit, so kurz nach dem Aufwachen, sucht das Bewusstsein tendenziell nach Halt an nachvollziehbaren, kleinen Schritten. Erst mal wach werden, dann sehen wir weiter.

 

Wie die Blumen im Frühling geht es zunächst einmal darum, aufrecht zu stehen. Nach dem Stehen kommt das Entfalten. Keine offene Blüte schwebt einfach so in der Luft. Es braucht das nötige Fundament. Die Ebene auf der alles aufbaut. Erst wenn diese Schritte passiert sind, öffnet sich die Blüte, strahlt, duftet. Der Mensch, er steht schon seit einiger Zeit auf eigenen Beinen, aber aufrecht ist er schon lange nicht mehr. Ein Blick ins Umfeld genügt um zu erkennen, wo er geknickt ist, genau wie man erkennt, dass der Frühling vorbei ist. Der Blick gen Boden gerichtet, auf der Suche nach Halt. Dabei kaum in der Lage nach vorne zu blicken oder gar nach oben zu höheren Dimensionen. 

 

7:45 Uhr. Ich bin zwischenzeitlich im Garten angekommen. Habe mich auf einen Stuhl gesetzt und bin in meine Gedanken vertieft. „Wie viele Vögel wohl gerade hier sind?“ Meine Augen sind geschlossen und ich versuche mir die Frage anhand des Gezwitschers zu beantworten. "Vielleicht drei oder vier?“ Plötzlich halte ich inne. Ich bin mir bei der Anzahl der Vögel nicht sicher, doch verunsichert mich der Gedanke, selbst nicht genau zu wissen, dass ich da bin. „Woher weiß ich, dass ich existiere, wenn ich die Augen geschlossen habe?“ Ich versuche mich einzufühlen. Die Augen weiter geschlossen, lausche ich. Spüre die Luft auf meiner Haut. Den Wind, wie er sanft die feinen Härchen auf meinen Armen streicht. Rieche die Nässe, die zwischen dem am Boden liegenden Laub vor sich hin steht. Fühle, wie der Winter unzertrennlich am Herbst hängt und immer näher kommt. 

 

Menschen… Bis heute weiß ich nicht, was wir eigentlich sind. Bis heute weiß ich nicht, ob wir überhaupt existieren. Keine Wissenschaft der Welt, kein noch so hoch dekorierter Intellektueller oder Intellektuelle, konnte dies je beweisen, das ist Fakt. Schlicht aus dem Grund, weil man Dasein nicht beweisen kann, wenn man es nicht fühlt. Und Gefühle sich tendenziell eher anfühlen, als erklären. Interessant dabei ist, dass wir unser Leben danach ausrichten, was wir erklären können, nicht jedoch danach, was wir fühlen. Daher wissen wir immer Bescheid, wenn uns jemand fragt, was wir machen, jedoch nicht aus welchem Grund. Der Grund ist Gefühl und gerade deswegen so schwer zu erklären. Doch vielleicht braucht es auch nicht immer eine Erklärung, vielleicht sind gerade die unerklärlichen Dinge die eigentlich spannenden, wunderlichen, mystischen Dinge in unserem Leben. 

 

8:00 Uhr. Ich öffne die Augen. Das Empfinden und die Signale meiner Sinne konnten mich nicht endgültig davon überzeugen, zu existieren. Dennoch hat es geholfen hierin ein kleines bisschen sicherer zu sein. Mein Blick schweift durch den Garten und bleibt an den letzten Blütenblättern hängen. Einige dieser Überbleibsel sind schon von einer gräulichen Schicht Schimmel überwachsen. Wie ein Filter liegt dieser auf den Farben und ermattet ihr Strahlen. So ist das nun mal, kein Grund zur Trauer. Was zu lange blüht, dass schimmelt irgendwann. Einfach damit es weiter geht, einfach damit es nicht stehen bleibt. Nur so erschafft sich die Natur jedes Jahr aufs Neue und genau so war es schon immer und wird es immer sein. 

 

Auch der Mensch unterliegt diesem Zyklus, ob das nun für ihn Sinn macht oder nicht. Wenn es überhaupt etwas gibt, dann gibt es nur diese eine Bewegung in der Welt, aber die ist konstant und nebenbei der Grund unserer Existenz. Ich richte meine Aufmerksamkeit in Richtung Himmel. Beobachte wie das Licht das Dunkel immer stärker zurücktreibt. Lausche dem Anbrechen des Tages. 8:15 Uhr. Allmählich dämmert es mir. Plötzlich fühle ich, dass ich etwas vergessen habe. Es ist Sonntag. 

 

Ich schmunzle. Vor lauter Routine habe ich gar nicht gemerkt, dass schon wieder Sonntag ist. Vor lauter Routine habe ich vergessen den Wecker auszustellen. Vor lauter Routine …

Ist die Routine einmal zu laut, überhört sich der Klang der natürlichen Mystik nur zu leicht, genau wie man nur zu leicht vergisst, warum man aufgestanden ist. 

 

Ich registriere. Nach einigen Momenten wird mir klar, dass ich einen völlig freien Tag habe. Zeit, mit der ich heute noch gar nicht gerechnet habe. Zeit, die einfach so aus dem Nichts zu mir gekommen ist. Eine Bandbreite an Möglichkeiten offenbart sich mir. Doch vielleicht muss man gar nicht immer etwas machen. Vielleicht reicht es einfach zu verblühen und nichts zu tun. Einfach damit es weitergeht.

 

Wir haben unsere Blüte bereits vor langem erreicht. Unser Frühling liegt einige Momente in der Vergangenheit zurück. Doch ist das nichts Tragisches. Der Herbst hat seine ganz eigene Schönheit und rechtfertigt dadurch das Ableben des Frühlings. Wer sind wir, dass wir uns gegen diesen natürlichen Zyklus stellen. Mit einstudierter routinierter Zeitarbeit schuften wir uns durch die Jahreszeiten im völligen Unverständnis darüber, dass wir uns hierbei verändern sollten, ohne uns auch nur einen Hauch der Zeit zu nehmen um die Bedeutung hinter unserem Handeln zu erfragen. 

 

Warum das wichtig ist? Tja, einfach deswegen, weil der Mensch nicht stärker ist als der Zyklus aus dem heraus er existiert. Woher ich das weiß? Wozu muss ich das wissen, wenn ich es sehe. Geschichtete Routinen machen krank, verschleiern das höhere Streben nach etwas das Sinn macht. An sich ist das nichts Falsches, zerstört aber auf Dauer die eigene Gesundheit genau wie den Glanz in den Augen und das, was sie in der Welt sehen. Denn während wir routiniert wie immer die Umwelt zerstören, weil wir nicht merken, dass der Sommer vorbei ist und im Herbst endlich Ruhe einkehren sollte, zerstören wir uns selbst im gleichen Maße. Burnout, Nervenzusammenbrüche, Schlaganfälle… Alles Anzeichen dafür, dass es Zeit ist zur Ruhe zu kommen und der Natur ihren natürlichen Lauf zu lassen.  

 

8:30 Uhr. Ich lächle, der Tag heute kam unerwartet. Befreiend und unroutiniert. Und doch begründet sich gerade in der Routine der Fortschritt. Die Routine ist nicht der Feind, sie ist Notwendigkeit für Veränderung. Doch ist derjenige Feind der Routine, der sich in ihr verliert und ihr so keine Zeit zum Ausruhen gibt. Ich atme tief ein. Heute war ein schöner Tag. Ein freier Tag. Ein Tag, der mit zärtlichen Worten lockt, die Schönheit der Veränderung zu betrachten und zu reflektieren. Genau wie der Herbst selbst dazu einlädt, die Mystik der Veränderung zu erleben. 

 

Warum es die Veränderung gibt? Wer weiß das schon, aber ohne sie gäbe es auch keinen, der sich die Zeit nehmen würde, sie zu bewundern.