Über Tod und Leben

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Don’t take it too seriously.

Ihr Blick richtete sich in die Richtung, aus der die Sterne ihr entgegen schauten. Licht, das Millionen von Jahren zu ihr unterwegs war, nur um für einen kurzen Moment der Zeit durch ihre Iris auf ihre Retina zu treffen, um so ihr Innerstes zu beleuchten. Der Tag war zur Neige gegangen. Das Leben, das tagsüber so viel Hektik nach sich zog, war nach und nach friedlich eingeschlafen und der Lärm der Geschäftigkeit langsam aber sicher von ihr gegangen. Nun gab es nur noch sie und die Sterne. Die Sterne und sie.  

Sie lag auf dem Rücken, den Blick fest nach oben gerichtet, und verlor sie sich in den Weiten des Weltalls. Der Kosmos. Dieser rätselhafte Ort. Dieser unwirklich weite Raum voll zauberhafter Welten. Was gab es schon hier auf der Erde, das auch nur annähernd vergleichbar wäre mit dem, was sich da draußen ereignete. Kollidierende Sterne, Supernovae, die Geburt eines Sterns. Alles unbegreifbar magische Phänomene, deren Erscheinen in der letzten Konsequenz doch ein Rätsel blieb. 

Und sie? Sie befand sich mittendrin. Zwischen Himmel und Erde. Die Gedanken des Tages entflohen allmählich den Mauern ihres Verstandes und befreiten sich in die Unendlichkeit über ihr. Schwebten mit neuer Energie einfach davon und ließen sie gedankenverloren zurück. Alles, was bis zu diesem Zeitpunkt wichtig war, relativierte sich im Anblick dieser größeren Dimensionen. Selbst das Leben. Was für eine Rolle spielte das Leben, ihr Leben, im Hinblick auf dieses Unbegreifbare?  


Sie fühlte, wie sie leichter wurde. Als söge die Dunkelheit immer mehr von ihr in sich auf. Den Sternenhimmel, den sie vor sich sah, war derselbe wie der, den schon ihre Mutter in stillen Nächten beobachtet hatte. Und selbst ihre Großeltern vermochten kaum mehr gesehen zu haben als das, was sie nun vor sich hatte. Sicher, die ein oder anderen Sterne waren verschwunden, doch lag das vermehrt an der zunehmenden eigenen Lichtproduktion der Menschen. Wie im Wettstreit duellierte sich die gesamte Spezies mit den Sternen um den hellsten Platz am Firmament, nur um irgendwann festzustellen, dass es gar keinen Wettstreit gab.  

Abgesehen von der blendenden Ausstrahlung menschlicher Gesellschaften, hatte sich der Sternenhimmel also kaum verändert. Schon Jahrtausende zuvor blickten ihre Ahnen in den gleichen Himmel, nur um sich dieselben schmerzhaften Selbstgeständnisse einzugestehen, nämlich dass alles im Hinblick auf diese Dimensionen irgendwie unwichtig erschien.  

Manche der Sterne waren bereits erloschen, jedoch benötigte ihr Licht diesen Weg um zu ihr zu gelangen. Der letzte Funke sozusagen. Das letzte Zeugnis einer Existenz, die nur derjenige mitbekam, der nach ihr Ausschau hielt. Und nachdem eben diese letzten Strahlen auf einen Betrachten fielen, auch sonst niemand mehr erleben sollte. Ob es jemanden gab, der um all die gefallenen Sterne weinte? Waren diese gigantischen Gasriesen überhaupt auf ihre Aufmerksamkeit angewiesen? Sicher existierten sie schon vor ihrer Geburt und würden dies auch noch lange nach ihrem Tod tun, doch war sie es nun, die ihr Licht in sich aufnahm um es den Rest ihres Lebens mit sich zu tragen.  

Sie lächelte. Ihr gefiel der Gedanke, das Licht der Sterne in sich aufzusaugen wie ein schwarzes Loch. Doch war sie davon überzeugt, es nicht für sich zu behalten, sondern es tags darauf weiter zu verbreiten. Licht hat die Eigenschaft, nicht kleiner zu werden, wenn man es teilt. Unmöglich also, etwas davon abzuschneiden und nur für sich zu behalten. Ob die Sterne auf die gleiche Weise zurückblickten? Mit der Intension, etwas von ihr in sich aufzunehmen und für ein gesamtes Sternenleben zu behalten? Wer wusste das schon, wer wusste schon zu beurteilen, welche Intensionen Sterne hatten.  

Doch gerade in diesem Augenblick fühlte es sich danach an. Sie fühlte sich beobachtet. Tausend kleine Lichter, die wie sanfte Augen zu ihr blickten und flüsterten. Tuschelten und ihr zu verstehen gaben, dass sie ein Teil von ihnen war genau wie sie Teil von ihr waren je mehr sie sich ihrer gewahr wurde. Sie schmunzelte. Fühlte sich aufgehoben und plötzlich nicht mehr allein. Wie war das bei den Menschen? Trug sich das Licht eines Menschen im gleichen Maße wie das der Sterne? Vermutlich immer eine Frage des Betrachters, doch irgendwie gab es Parallelen.  

Ein Mensch, der besonders hell strahlte, trug sein Licht auch lange nach seinem Ableben nach sich. Entfachte Funken bei seinen Mitmenschen um so letztlich unsterblich zu werden, wie die gesamte Spezies. Sie gedachte jenen, die bereits gegangen waren, großen Persönlichkeiten, die ihre Spuren in der Geschichte der Welt hinterlassen hatten. Lichtgestalten, die auf wundersame Weise so viel heller strahlten, als alle anderen und so noch heute von ihnen erzählt wurde. Wie die großen Mythen der Antike, die Göttergeschichten unserer Ahnen, waren nun auch die ein oder anderen Menschen Teil dieser Erzählungen geworden.  

Schillernd wie Sterne drangen ihre Heldentaten bis heute zu ihr durch, und trafen sie genau wie das Licht der Sterne irgendwo tief in ihrem Verständnis von der Welt, in der sie sich selbst erkannte. Und alle betrachteten denselben Sternenhimmel wie sie. Sicher, die Jahrtausende konnten die Position etwas verändert haben, doch letztlich waren die Sterne stetige Begleiter des Weltgeschehens, stetige Betrachter.  

Sie erinnerte sich an eine Geschichte aus ihrer Kindheit. Man erzählte ihr, dass die Sterne all das Licht in sich trugen, das der Mensch freigab, nachdem er erloschen war. Sie waren die Augen der Ahnen, die sanftmütig wie Riesen zu der Stelle hinabblickten, an der sie einst selbst gestanden und mit fasziniertem Blick nach oben gestarrt hatten. Was war das nur für eine verwirrende Angelegenheit. Im Spiegel der Sterne konnte man sich also durchaus erkennen, wenn man dazu den richtigen Blick hatte. Denn die Sterne verrieten einem nur ihre Wahrheit, wenn man sie genauso wohlwollend betrachtete, wie sie einen beobachteten.  

Die Anmut der Sterne lag nicht in ihrem verurteilenden Blick. Ihr Schauen richtete sich auf die ganze Welt. Auf alle ihre Aspekte. Erleuchtete selbst die dunklen Momente, vor welchen die Menschen oft genug die Augen verschlossen hielten. Wohlwollend hielten sie dem Blick stand, als Schwerter zusammenkrachten und Krieg herrschte. Wissend darüber, dass letztlich wieder Frieden eintreten würde. Doch auch die Sterne hatten ihre Prinzipien. So verrieten sie einem lediglich dann ihre Geheimnisse, wenn man sie mit demselben Respekt behandelte wie sie einen. Sie spendeten Trost, wenn das menschliche Durcheinander zu kompliziert wurde, doch verhielten sie sich stumm, wenn man zu viele Erwartungen an sie stellte.  

Aus der Perspektive der Sterne gab es kein Gut, kein Schlecht, kein Richtig und kein Falsch, kein Vorher und Nachher. Aus Sicht der Sterne gab es nur Licht und Dunkel und während dies für sie unmittelbarer Grund zum Leuchten war, interpretierte der Mensch Bedeutungen in diesen einfachen Kontrast. Bedeutungen, die jedoch nur in menschlichen Dimensionen nachvollziehbar waren.  

Der Tod allerdings fand seinesgleichen. Gelangte ein Stern irgendwann an sein Ende, so begann er zunächst damit, immer weniger hell zu leuchten und dabei immer größer zu werden. Die Gase in seinem Innersten zersetzten sich in immer kleinere Bestandteile, die stetig mehr Raum einnahmen. Und je mehr er sich aufblähte, desto matter wurde er. Wie ein alter Riese vermochte er so bis auf das doppelte seines ursprünglichen Einflusses heranzuwachsen um letztlich in einer Supernova zu implodieren. Hierbei verließen ihn seine letzten glitzernden Funken, wobei er selbst in einem schwarzen Nichts verschwand.  

Das Licht jedoch, das er einst ausgestrahlt hatte, verschwand nicht. Nein, stattdessen war es genau wie die Erinnerungen der eigenen Ahnen beständig auf dem Weg durch das Universum um letztlich in ihren Augen erneut zu erstrahlen. Solange, bis auch sie ihre letzten Augenblicke aufleben ließ. Und gerade hier lag die spannendste Gemeinsamkeit. Denn auch ihr Licht würde nicht erlöschen. Solange sie strahlte, erleuchtete sie die Welt, in der sie sich befand. Selbst wenn sie eines Tages nicht mehr da sein würde, so würde ihr Licht weiter seinen Weg gehen, weiter funkeln.  

Sie atmete tief. Das Leben war nicht mehr als ein Wechselspiel aus Hell und Dunkel. Nicht mehr, aber eben auch nicht weniger und gerade darin lag die unendliche Vielfalt des gesamten Universums. Faszinierend wie aus Nichts und etwas Licht schlichtweg alles entsteht. Unbegreiflich und daher so voller Anmut. Was waren also die Sterne anderes als die ältesten Augen des Kosmos? Was waren also die Menschen anderes als seine Jüngsten?  

In der Nacht kreuzten sich beide Blickwinkel. Beide Perspektiven ein und desselben Kosmos. Alt und Jung. Tod und Leben. So dicht beieinander und doch völlig verschieden, jedoch im Kern ein und derselbe Geist, der sich aus unterschiedlichen Richtungen selbst bewunderte.  

Sie schmunzelte. Erkannte, dass alle verloren geglaubten noch hier waren, noch Teil des Lichts waren, das sie selbst belebte. Jede Lichtgestalt, ob nun am Firmament oder in ihrer Vergangenheit, war Teil des Funkens in ihrem Selbst und so würde auch sie eines Tages wieder eine neue Gestalt annehmen, dabei ihr Licht jedoch nicht verlieren. Licht schwindet nicht. Niemals. Gibt es kein Licht, so gibt es nichts außer Dunkelheit. Gibt es keine Dunkelheit, so gibt es keine Kontraste und somit nur noch ein weißes Nichts. Nein im Wechselspiel aus Hell und Dunkel liegt die Schönheit der gesamten Existenz genau wie im Wechselbad der Gefühle ihr Dasein spürbar wird.  

Sie schloss die Augen. Fühlte wie Wärme in ihr aufkam und sie gänzlich erfüllte. Das Gefühl von Verbundenheit machte sich in ihr breit. Ein Gefühl tiefer bedingungsloser Zugehörigkeit zu einer unendlichen Gemeinschaft.

Ist es das, was wir Mitgefühl nennen?  


Wir sind, was wir sind. Doch was sind wir? Sicherlich keine Menschen, denn solange wir die Bedeutung dessen, was es heißt Mensch zu sein, nicht kennen, steht es uns nicht zu, uns so zu bezeichnen, da es offenkundig nur Verwirrung darüber stiftet, was wir über uns denken. Vielmehr sind wir eine Verkörperung des Universums, des Kosmos. Wir sind die Geschwister der Sterne und gleichzeitig ihre Kinder. Doch innerhalb solcher Dimensionen lohnt es sich nicht mehr von Dualität zu sprechen. Am Anfang war das Dunkel und das Licht im stetigen Wechselspiel. Und so ist es bis heute und wird es immer sein.  

Wir sind etwas Besonders und gleichzeitig sind wir Nichts.  

Wir sind, was wir sind:

Die Verkörperung von Licht und Dunkelheit im Tanz um unendliche Formen.