Über Vergehen und Gehenlassen

"Du sagtest einmal, wir würden uns ewig lieben.“ Sie betrachtet mich. Fast stechend bohrt sich das Gesagte in meinen Schädel. Prallt im Innern gegen Wände und schmerzt tief in meiner Brust. „Nun liegt das ewig zurück. Ich fühle Wut, was ist passiert?“ Ein großes Fragen blitzt in ihren Augen auf, und ich bin nicht mehr im Stande zu widerstehen. Ich küsse sie. Weiß nicht, wie ich mich verhalten soll und gebe mich hin. 

Was war passiert? Das ist die eigentliche Frage. „Leben“ war die einfache Antwort, doch in ihr liegt die Komplexität von allem, was sich der Verstand nur ausdenken kann. Liebe und Hass. Geschwister im Tanz um eine Mitte, die sich nur schwer halten lässt, wenn von außen zu viele Eindrücke einwirken und die Form verändern. Eigentlich war es einfach: aus ersten Begegnungen entstehen erste, wage Empfindungen. Nach und nach klarere Vorstellungen und dann Gefühle füreinander. Bis hierher läuft es ganz leicht. Doch der Moment kommt. Der erste Moment des Zweifels. Gefühle zu haben offenbart immer die eigene Verletzlichkeit und so kommt die Angst

Ich löse mich von ihr, weiche erschrocken zurück. Sie erwidert meinen Kuss nicht. 

„Ich kann das nicht mehr.“ In ihren Augen liegt Traurigkeit. „Es ist nicht so, dass ich nicht will. Mir fehlt die Kraft.“ 

Ihre Zurückweisung trifft mich erneut. Irgendwo in meiner Brust spüre ich wie mein Herz für einen kurzen Moment aus dem Takt gerät, verstummt und nach endlosen Momenten wieder zu schlagen beginnt. Doch ein Stechen bleibt. Schlag für Schlag, und eine Narbe bleibt. Ich bin verwirrt, kann nicht mehr klar denken. Will es auch nicht. Es gibt sie, jene Momente im Leben, in denen nichts mehr wichtig scheint. Jene Momente, in denen die Welt aus dem eigenen Fokus gerät und sich alles nur noch um eine Sache dreht. Im täglichen Streben nach Erfolg sind sie oft eine willkommene Abwechslung. Jedoch werfen sie einen auch nur zu leicht aus der Bahn. Und dann? Dann steht man da, ist verwirrt. Am Ende der eigenen Gedanken und völlig paralysiert. Verliert sich in den Tiefen der Psyche und findet nichts außer Ratlosigkeit. 

„Was soll ich sagen“, flüstere ich. „Ich kann nicht verstehen, was passiert ist.“ 

Die Bilder meiner Erinnerung sind zu verworren. Die Chronik ist durcheinander geraten. Glückliche Augenblicke blitzen in meinem Geiste auf. Szenen voller Sorglosigkeit gefolgt von verzweifelten, einsamen Stunden in dunklen Ecken der eigenen Gedanken. 

„Du bist gegangen“, sage ich irgendwann. „Ich konnte dich nicht davon abhalten.“ 

Ihr Blick löst sich von mir, wendet sich ab, um sich in die Sterne über uns zu flüchten. 

„Meine Liebe zu dir ist niemals weniger geworden. Nur schwerer. Die Gefühle, die uns verbinden - wie könnte ich sie je vergessen? Wie könnte ich mich ihnen je entsagen?“, murmle ich und bekomme keine Antwort. Nur Stille. 

Letztlich ist unsere Geschichte schnell erzählt. Wir fanden uns, begegneten uns. In einem zufälligen Moment. Weder sie noch ich wussten, was passieren würde und nichts was geschah, war das Resultat eines Plans. Die Illusion der Kontrolle verlor sich direkt in den ersten Momenten und bestätigte sich durch ihr weiteres Ausbleiben. Kontrolle. Es gibt sie, diese Momente, in denen die Welt aus dem eigenen Fokus gerät und sich alles nur noch um eine Sache dreht. Der Blick, der sich auf den anderen einschwört und sich nicht mehr gestattet, von ihm abzulassen. Außer Kontrolle.

Wir liebten uns, lieben uns noch, doch war sie es, die gehen musste. Und ich, der es nicht verhindern konnte. Verzweiflung nebst Verlangen. Kontrollverlust oder einfach Schicksal. Am Ende des Tages bleiben Fragen, auf die es keine Antwort gibt. 

Eines Tages kam sie zurück, die Welt. Schlich sich unauffällig in die Gedanken und vergiftete das, was wir füreinander empfanden. Nicht, weil es dazu wirklichen Grund gegeben hätte. Nein. Vielmehr aus dem Grund, weil kalte Gefühle langsam kriechend die warmen durchströmen, so wie die Kälte im Winter unter die Kleider kriecht und frösteln lässt. Dabei ist das so nicht wahr. Kalte Gefühle kommen immer vom Verstand: Er ist des Messers Schneide und je schärfer er ist, desto tiefer trifft er, wenn es sein muss. Dann kommen die Be-gründungen, Recht-fertigungen. Als ob es bei Liebe um Recht und Gründe geht. Doch gerade hier, wo die Angst vor Verletzung am größten ist, findet der Verstand seinen Nährboden. Niestet sich ein und wuchert. Umklammert mit langen, spitzen Fingern das eigene Herz und drückt beim Atmen. Und irgendwann ist es soweit. Irgendwann hat der Verstand es geschafft, einen zu überreden und man geht auf Distanz. Nicht etwa zum anderen, sondern allen voran zu sich selbst. Doch der Entzug der eigenen Liebe ist schmerzhaft und auf Dauer nicht zu halten. Die Gründe dafür jedoch schon. 

Sie dreht den Kopf zu mir und lächelt. „Es war nicht meine Absicht zu gehen. Ich hatte Angst. Angst davor dich zu verlieren. Dich nicht mehr in meinem Leben zu finden, wenn ich am verletzlichsten bin. Angst, wieder von dir getrennt zu sein und einen Teil meines Herzens verschwinden zu sehen. Angst davor, so viel von mir preiszugeben und dir meine größte Schwachstelle anzuvertrauen. Doch dafür war es schon zu spät, denn du kanntest sie bereits. Du warst sie bereits.“ 

Es kostet Kraft. Alles kostet Kraft. Das Leben ist ein einziger Kraftakt gegen die Schwerkraft. Solange, bis wir aufeinander treffen. Jene Begegnungen, die das Leben leicht machen und alles vergessen lassen, was unnötig am Boden hält. Doch verschwindet die Schwerkraft nicht einfach. Sie ist beständiger Begleiter. Leichtigkeit nicht. Leichtigkeit hängt mit den Begegnungen zusammen, die sie erzeugen. Und so kommt die Schwerkraft in einsamen Momenten zurück und wirkt nun viel kräftiger als vorher. Einfach wegen des Kontrastes. Diesen Umschwung zu ertragen, erfordert Mut und unerschütterliches Vertrauen. Vertrauen darauf, dass die Leichtigkeit wieder kommt und gerade im Kontrast ihre Schwerelosigkeit findet. 

„Was soll ich sagen“, schmunzelt sie. „Ich war einfach nicht mutig genug. Zu fest sah ich mich in der Abhängigkeit nach Liebe. Deiner Liebe. Die Angst davor, sie zu verlieren und dann daran zu zerbrechen. Die Überlegungen eines ängstlichen Verstandes führen meistens zur Flucht. Auch weil ich sehen konnte, wie du dich selbst immer weiter in uns verloren hast. Dein Ich, das zu einem Wir wurde, und die viele Ecken, an den ich mich stoßen wollte, wurden schlicht rund. Sicher, heute hätte ich mich vielleicht anders entschieden. Heute wäre vielleicht alles anders gekommen. Zu jenem Zeitpunkt aber konnte ich nicht.“ 

Ich überlege. Wut pumpt durch meine Adern. Frisst an mir und färbt die Bilder in meinem Kopf auf bestimme Weise ein. „Ich bin wütend“, sage ich irgendwann. „Ich bin wütend auf dich und darauf, dass du nicht mutig genug warst. Wütend darauf, dass es nun zu spät ist und wütend auf mich, dass ich nichts daran ändern kann. Ich weiß, du trägst daran keine Schuld und doch will ich, dass du die Verantwortung dafür trägst.“ 

„Deine Wut ist offensichtlich“, lächelt sie vorsichtig. „Es schmerzt, dich so zu sehen. Ich weiß, dass du mir die Verantwortung geben möchtest. Doch weiß ich auch, dass du sie dir gibst, genau wie du vielmehr Wut für dich hast, als für mich. Bitte verzeih mir. Bitte verzeih dir selbst.“ 

Ich weiche zurück, richte meinen Blick auf sie und starre in ihre Augen. „Wie könnte ich das, wenn es für uns kein Zurück mehr gibt? Wie könnte ich, wenn es nichts mehr zu korrigieren gibt, wenn es einfach zu spät ist?“ 

„Du musst mich gehen lassen“. Wieder dieses Lächeln. „Ich werde immer in deinem Herzen sein. Mein Licht wird immer in dir leuchten, doch musst du mich gehen lassen, denn ich kann es nicht mehr ertragen, dich daran zerbrechen zu sehen.“ 

Mit liebevollen Augen betrachtet sie mich. „Ich danke dir für deine Liebe. Du wirst immer bei mir sein. Verzeih mir, dass ich solange gebraucht habe.“ Sie schließt die Augen umarmt mich. Wir küssen uns.  

Als ich meine Augen wieder öffne, ist sie verschwunden. Dort, wo sie stand, ist nichts mehr. Ich bin allein. Als ich meinen Blick nach oben richte und die Sterne sehe, rollt eine Träne meine Wange herab. 

Der Unfall, er lag schon einige Zeit zurück. Ihre Augen hatten sich schon eine kleine Weile für immer geschlossen. Mein Herz, allmählich wieder geheilt, doch eine Narbe bleibt. Wäre sie doch nur nicht gefahren. 

„Leb wohl“, flüstere ich, als ich ihr Gesicht in den Sternen verliere. Doch ich weiß, sie ist bei mir. Ewig

Ich senke den Blick, die Nacht ist klar und kalt. Frost, der das Gras in weiß schimmernde Gewänder hüllt. Die Sterne hell über meinem Kopf. Der Weg vor mir. Und sie? Sie konnte endlich gehen, genau wie ich. 

„Danke.“