Über uns

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Unsere Schritte knirschen auf dem Waldweg. Die ersten Strahlen der Sonne reflektieren sich im Morgennebel und tauen allmählich den Frost von den Blättern. Auch unsere Schritte können diese Friedlichkeit nicht durchbrechen. Alles fühlt sich so an, als ob es genau so und nicht anders sein soll. Der Blick schweift gedankenlos. Was für eine Ruhe. 

Ich drehe den Kopf in ihre Richtung und betrachte sie. Mit weit offenen Augen und dem Strahlen kindlicher Freude blickt sie in die Welt um sich und ich sehe, sie ist glücklich. So gehen wir Schritt für Schritt immer tiefer in unsere Emotionen. Der Schritt raus aus dem Kopf führt zu unserem wahren Wesen. 

on ne voit bien qu'avec le cœur. l'essentiel est invisible pour les yeux 

 

Als sie mich anblickt, fühle ich eine Veränderung. Die kindliche Freude in ihren Augen ist einer aufquellenden Melancholie gewichen. Ich weiß, ich werde nicht danach fragen. Eine Quelle soll man nicht zwingen zu sprudeln. Sie wird es von allein tun, wenn sie soweit ist. 

Nach ein paar Minuten des gegenseitigen Betrachtens fragt sie mich:

"Wie kann in einer Welt, in der alles seinen Platz hat, der Mensch keinen haben? Wieso ist das Leben für so viele Menschen so kompliziert? Woher all das Leid, obwohl wir es besser wissen? Warum die ganze Zerstörung, obwohl wir Alternativen haben? Wieso so viel Hass, obwohl wir lieben können? Woher kommt diese ganze soziale Kälte? Wie kann ich wissen, welches Glas halb voll und welches halb leer ist?" 

 

Ich löse mich von ihrem Blick und richte ihn zurück auf den Weg. Drehe den Kopf und blicke zurück in die Richtung aus der wir gekommen sind. Nach einigen Gedanken schaue ich wieder nach vorne und beginne langsam, einen Fuß vor den anderen in die noch unbestrittene Richtung zu setzen. 

Das Gehen aktiviert die beiden Gehirnhälften, hilft also beim Denken. So setzen wir uns wieder in Bewegung, und meine Gedanken beginnen zu kreisen. Nach einer kleiner Weile scheinen sie sich formulieren zu wollen und ich beginne zu antworten: 

 

"Das Leben ist oftmals eine verwirrende Angelegenheit. Vieles von dem was wir tun, verstehen wir nicht und vieles was wir verstehen, tun wir nicht. Wir treiben wie ein Schiff ohne Segel von Augenblick zu Augenblick, von Moment zu Moment. Wir haben uns selbst den Namen Mensch gegeben und meinen, wir könnten damit unser Treiben ausrichten und verstehen. Doch was sind Namen anderes als Schall und Rauch?

In der Wirklichkeit gibt es keine Namen. Namen sind etwas, um die Dinge um uns herum zu beschreiben, anderen von uns verständlich zu machen. Jedoch vergessen wir dabei oftmals, dass hinter diesen Namen Phänomene stecken, die sich durch ihren Eigennamen nicht beschreiben lassen. Was also ist Der Mensch?“, frage ich in das Blätterdach über uns. 

„Wissenschaftlich betrachtet ist er ein hochkomplexes Wesen bestehend aus einer Vielzahl hochkomplexer Wesen, deren gemeinsames Ziel sich darin manifestiert hat, möglichst angenehm zu überleben." 

Doch natürlich ist die Bedeutung dieser Aussage, wie sämtliche wissenschaftlichen Aussagen, nicht augenscheinlich begreifbar.

 

Ihr Blick verät mir, mit Wissenschaft ist diese Frage nicht zu beantworten. Es gibt einen Bereich, den die Wissenschaft zwar erklären kann, nämlich dass Emotionen eine Mischung aus Botenstoffen und Hormonen sind, doch die wirkliche Bedeutung lässt sich daraus nicht begreifen. 

Wenn wir uns nicht auf die Wissenschaft beziehen können, so hilft es, die Blickwinkel zu verändern. Ich überlege weiter: 

 

„Wir“ oder vielmehr das „Ich“, ist ein Reisender ohne wirkliches Ziel. Das „Ich“ treibt zwischen den Augenblicken in einem Meer aus Situationen und Ereignissen, die so komplex und gleichzeitig chaotisch sind, dass sie das Leben oft zu einer seltsamen Angelegenheit machen. Dinge, die uns heute um den Verstand bringen, müssen nicht länger als ein Gestern existieren. Selbst tiefste Überzeugungen können ins Wanken geraten, wenn sich das Meer in dem wir treiben, aufbauscht. Wir blicken mit Mut in einen Nebel voller Ereignisse, die so fern unseres Verstandes liegen. Dabei glauben wir, das Steuer liege in unserer Hand. Alles, was wir jedoch in unseren Händen halten, ist ein großes Fragen, mithilfe dessen wir versuchen, den Nebel und das umschließende Wasser um uns herum zu ergründen. Das gibt uns eine Illusion der Kontrolle, wobei sich das Meer aus Zufall nicht kontrollieren lässt. Das Universum ist ein chaotisches Meer und wir versuchen mit Hilfe von Namen Ordnung in einem Chaos zu schaffen, dass sich nicht ordnen lässt. Der Mensch ist vielmehr ein Sammler, wenn man so will. Er sammelt Antworten auf Fragen, die er noch nicht stellen konnte, da die Zeit noch nicht reif dafür war. Wie ein Entdecker in einer Fremde, der sammelt ohne zu wissen was entscheidend ist. Wir sammeln Erfahrungen, ohne dass wir wissen, welche davon wichtig sind. Letztlich werden uns all jene Erfahrungen zu dem „Ich“ machen, mit dem wir uns identifizieren. Doch das Meer um uns herum steht nicht still. Strömungen, Winde, Dunkelheit, Sonnenschein, Gewitter, alles Unbezähmbare, durchströmt unser „Ich“ in einem Fluss, der für das Individuum erst erlischt, wenn es selbst nicht mehr ist. Das Einzige, was wir wissen, ist die Richtung der Strömung, deren Ziel wir nicht begreifen. Das Leben fließt nur in die eine Richtung." 

 

Zweifelnd runzelt sie ihre Stirn. Sie scheint nicht glücklich mit dieser Antwort zu sein. „Ich finde, das klingt sehr traurig.“ sagt sie. „Bestehen wir also nur aus gesammelten Erlebnissen? Haben wir keinerlei Einfluss darauf, wie sich unser Leben entwickeln wird, außer dass wir hoffen können?“

 

Ich überlege. "Ich muss gestehen, diese Art der Auslegung hatte ich nicht im Sinn!“, erwidere ich. Nach kurzem Überlegen setze ich erneut an: 

 

"Das „Ich" ist wie der Lichtkegel einer Laterne, welche wir in den Händen halten. Wir leuchten in die Dunkelheit um uns herum und versuchen zu erkennen, was in unseren Lichtkegel fällt. Wir glauben dabei Muster zu erkennen, Muster, die uns Mut zum Weitersuchen geben. Was wir dabei außer Acht lassen: Muster in einem Chaos bleiben im Resultat immer chaotisch. Und dennoch, es ist das Einzige, was wir tun können, um unserem Dasein einen Sinn zu geben. Jedoch verändert das nicht unsere Existenz. Das „Ich“ ist ein aus Augenblicken Bestehendes, je emotionaler wir diese Augenblicke empfinden, desto stärker erkennen wir sie im Schein unserer kleinen Lampe. Je weniger wir dabei empfinden, desto schattenartiger erscheinen sie uns. Wir sind eine Ansammlung von Augenblicken aus Emotionen. Je mächtiger unsere Emotion, unser Empfinden, desto mehr identifizieren wir uns mit diesem Augenblick und lassen ihn zu einem Teil unserer Existenz werden. Sobald jedoch unsere Emotionen an bestimmte Augenblicke verblassen oder sie erkalten, werden sie beständig durch neue Erfahrungen eingefärbt, welche sich auf eine gleichende Weise in unser „Ich" drängen. Wir haben die Laterne in der Hand, wir können beeinflussen, wo wir um uns herum leuchten, jedoch können wir nicht beeinflussen, wo sich dieses "um uns herum" befindet." 

 

„In Ordnung!“, sagt sie. „Wenn wir aber alle eigentlich nur mit einer Laterne in einer unendlichen Dunkelheit umherirren und keiner so richtig weiß wohin, wieso haben einige so viel Traurigkeit in ihren Herzen und andere nicht?“, will sie mit sicherer Stimme wissen. 

 

Ich schmunzle. „Das ist die Frage“, entgegne ich. „Aber wenn wir in unser Herz schauen, finden wir die Antwort hierauf. Wir müssen jedoch aufmerksam sein. Und das ist in einer Gesellschaft, die nur redet anstatt zu tun, nicht ganz einfach.“ 

 

„Weißt du“, sage ich, „der Mensch treibt in einem durch den Zufall bestimmten chaotischen Meer aus Unvorstellbarem und versucht hierbei die Richtung seiner Reise zu erkennen. Hierbei taucht das kindlich tollpatschige "Ich" bei Zeiten in Erfahrungen, deren Begreifen so überwältigend ist, dass es diese nicht in Worte fassen kann. Es gibt Erfahrungen, über die es keine Worte zu sagen gibt, und doch ist ihr Erleben Teil unserer Identität. Der Mensch ist ein Wesen, das sein Leben lang ein kindliches Gemüt beibehält. Kindlich, da es niemals mehr sein wird, als ein Entdecker in einem Meer aus Geheimnissen und Wundern. Die Erfahrungen, die er macht, können ihm dabei immer mehr seiner kindlichen Freude berauben, jedoch wird es immer ein Kindliches bleiben. Der Mensch hat sich durch zu viel angebliches Wissen in eine Position begeben, in der er sich selbst nicht mehr gestattet, Trost zu empfangen. Trost dafür, dass die Erfahrungen, die wir bei Zeiten erleben, stärker sind, als wir manchmal ertragen können. Doch was macht ein Kind, das nicht getröstet wird? Es erkaltet, es wird matt, es verliert seine Freude an der Welt und an seinem Dasein, ebenso wie wir. 

Wir müssen uns eingestehen, dass wir emotionale Wesen sind, Wesen mit kindlicher Freude und großen, neugierigen Augen, welche die Welt, in der wir leben voller Neugier und Aufregung betrachten. Mit dem Voranschreiten der Zeit und dem stetigen Fluss an Erfahrungen, die unsere Identität zu jedem Augenblick neu definieren, verschließen wir uns vor unseren Emotionen. Wir gestehen uns nicht ein, nicht zu wissen, was zu tun ist. Wir erlauben uns nicht den Kopf hängen zu lassen oder gar bedenkenlos zu tanzen. Wir sind erwachsen. Doch woraus sind wir erwachsen? Aus dem kindlichen Dasein des Erkundenden der Welt? Haben wir sie denn je verstanden?

 

Die Frage hängt in der Luft wie die morgendlichen Nebelschwaden, die uns umgeben, nicht zu greifen, und doch allumfassend.

 

„Es heißt, jeder stirbt allein, doch das stimmt nicht.“ Fahre ich fort. “Wir sind viele, wenn wir sterben. Ein Meer aus Erfahrungen und Emotionen, die in stetigem Fluss immer wieder neu definieren, wer wir sind. Doch vor allem sind wir immer noch Kinder. Am Ende unseres Daseins sind wir genauso erkennend wie zu Beginn des Lebens. Wir sind Erkundende auf einem Schiff ohne Segel, das durch den Zufall von einem Augenblick zum nächsten getragen wird. Wir sehen dabei nie mehr, als der Kegel unserer Laterne in der Dunkelheit zu Erleuchten vermag. Doch wir sind nicht mehr allein. All jene, die wir waren, die Teil unserer Identität sind, teilen sich den Platz auf unserem Schiff. All unsere Erlebnisse und die daraus resultierenden Persönlichkeiten stehen hinter jedem Gedanken, den wir heute denken. Wir sind unzählbar viele. Doch darum auch unzählbar viele Verletzte, Enttäuschte, Ratlose, Ängstliche, Schwache und Kalte. All jene, deren kindliche Verwirrung und Irritation über die Welt nicht getröstet werden konnte. Doch all jene sind Teil von uns. Beeinflussen jeden unserer Gedanken sowie unsere Entscheidungen und kommen zu uns durch, wenn wir abends die Türe zum Rest der Welt schließen. Dann nämlich, wenn wir allein mit all unseren Identitäten sind, erst dann funkelt der wahre Kern unseres Wesen hervor. Wer zu lange nicht allein war, wer zu lange erkalten konnte, derjenige erträgt dieses "Allein mit sich selbst sein" nicht. Denn zu viele gleichzeitige Identitäten können überwältigen, wenn sie niemals Trost gefunden haben.“

 

Sie blickt mich an und wirkt irritiert. Eine Mischung aus Traurigkeit und wissenschaftlicher Emotionslosigkeit betrachten mich. 

"Aber wenn wir das Leben niemals verstehen werden und eigentlich nie aus dieser Verwirrung erwachsen, wie können wir dann wirklich glücklich werden?“, flüstert sie, während sich aus dem einen Auge eine Träne an die Oberfläche kämpft. Ich beobachte, wie sie ihre Wange hinabrinnt, um sich schließlich von ihr zu lösen und zu Boden zu fallen. 

 

Ich schweige. Spüre, wie sich meine Augen befeuchten. Was soll man(n) gegen Gefühle machen? Ich mache einen Schritt auf sie zu, und lege meine Arme um sie. Nach einer Weile löst sich auch eine Träne aus meinen Augen und tropft auf ihre Schulter, während sie ihr Gesicht in meiner Schulter vergräbt. „Schultern sind wichtig“, denke ich mir und setze zur entscheidenden Antwort an: 

 

„Man muss das Meer nicht verstehen, um darin zu baden.”

Wir müssen dieses Eine begreifen. Wir bleiben Kinder, wir erwachsen niemals diesem Geheimnis, das wir Welt nennen. Wir müssen uns eingestehen, dass wir unwissende Entdecker bleiben, die mit kindlicher Freude und neugierigen Augen in einer Welt existieren, die so wundervoll und großartig ist, dass wir sie niemals im Ganzen begreifen können. Unsere Arme sind schlicht nicht lang und unsere Hände nicht groß genug, um alles zu umfassen. Wir müssen uns eingestehen, dass wir nicht mit allem umgehen können, da alles schlicht zu viel für einen ist. 

Daher sind wir viele, die uns ausmachen. Viele, weil viel erfahren wurden. Jedoch bleibt jeder davon am Ende ein Entdecker. Ein Erkunder einer unbekannten Erfahrung. Ein Kind, das diese Welt zum ersten Mal sieht und manchmal einfach nicht verstehen kann, was es erlebt. Ein Kind, das manchmal schlicht Angst davor hat, was als nächstes kommt. Ein Kind, das vor lauter Aufregung und Verwirrung in den Arm genommen werden will, um sich daran zu trösten, dass sich alles zum Besten wenden wird. 

Das Leben besteht nicht in dem Verstehen. Das Leben besteht im Leben. Wir sind Lebewesen, Wesen, deren Bestimmung das Leben selbst ist. Man muss das Leben nicht verstehen, um es zu leben. Vielmehr lebt es sich einfacher je weniger man versucht, es zu ergründen. Erst der Versuch, das Leben zu verstehen, entfremdet uns von ihm. Was sind wir denn anderes als Wesen auf einem Gesteinsbrocken mit glühendem Kern in einem schwarzen Meer aus Nichts. Es ist in Ordnung, sich einzugestehen, dass wir im Endeffekt nichts wissen. Es ist in Ordnung ratlos zu sein. Und es ist in Ordnung, sich zu gestatten, Trost einzufordern, wenn die Welt uns mit Situationen konfrontiert deren Bewältigung wir nicht mächtig sind. Wir sind alle nur Lebewesen in einem Meer aus Erfahrungen und Emotionen und der einzigen Richtung der Zeit. Niemand hat je von uns erwartet, damit umgehen zu können. 

Wie mit allem, müssen wir erst ausprobieren, erkunden, lernen, erfahren, jedoch bleibt es am Ende genau das, ein Schiff ohne Segel, in einem Meer aus zufälligen Strömungen, chaotischem Wetter und schwacher Beleuchtung. Und wir, wir sind Kapitäne mit dem Steuer des Fragens in unseren Händen und einer Besatzung aus augenblicklichen, emotionalen Identitäten mit kindlichen Gemütern.“

 

Als mein Redeschwall versiegt ist, betrachte ich sie erneut. Ich bewundere die Schönheit dieses Wesens. Eine Schönheit aus Unbeschwertheit und Freude. Sie lächelt mich an, während eine weitere Träne in der Morgensonne glitzernd den Weg über ihre Wange findet. 

Freude und Traurigkeit sind ein und dasselbe, denke ich und schließe die Augen. 

Die Sonne wärmt meine Haut. 

 

Die Frage, welches Glas halb voll oder halb leer ist, sage ich, hängt davon ab, welche deiner Emotionen Durst hat.

 

Zufrieden gestimmt durch diese Antwort, öffne ich meine Augen, um den Erfolg meiner Aussage zu überprüfen. Doch wo sie mich gerade noch anlächelte ist nun Leere. Hektisch drehe ich mich in alle Richtungen. Doch ich bin allein. Außer mir ist weit und breit niemand zu sehen. 

War sie überhaupt da?

Langsam und verwirrt beginne ich wieder zu gehen. Und so setze ich nun mit einsam knirschenden Schritten meinen Weg fort. Immer weiter in die Richtung, die ich noch nicht gegangen bin. Immer weiter Richtung Unbekanntes.