Über widersprüchliche Gefühle

Wir sitzen auf einem Sofa vor dem Fenster. Vor uns erstreckt sich die Schönheit des Sees. Immer wenn ich hier bin, verliere ich mich in diesem Anblick. Schon als Kind fand ich genau hier immer Zuflucht, wenn die Welt mir wieder mal über den Kopf wuchs. 

So sitzen wir beide da, blicken verträumt auf den See, während der Regen von außen gegen die Fenster prasselt. Heute haben wir entschieden zu Hause zu bleiben, bei Regen ist es draußen eher kurzfristig trocken und mit nassen Kleidern ist auch die schönste Landschaft ungemütlich. 

Mittlerweile habe ich die Zeit aus den Augen verloren. Wo es viel zu sehen gibt, bleibt keine Zeit auf die Uhr zu schauen. Gut möglich, dass wir schon seit geraumer Zeit so da sitzen. 

Getrieben von der Neugier fällt mein Blick auf ihre Haare, folgt ihnen bis zu ihrem Kopf hin zu den Augen. Strahlend blickt sie in die Leere der Weite. Was für ein eigenartiger Gedanke, denke ich. 

Wie kann man mit strahlenden Augen ins Leere starren, ist das nicht widersprüchlich? 

 

Sie bemerkt meine Verwirrung. Immer wenn ich in meinen Gedanken festhänge, tritt meine Grüblerfalte hervor, die sich selbst nach Stunden noch durch die Rötung auf meiner Stirn abzeichnet. 

„An was denkst du?“, fragt sie mich. 

„Ich bin mir noch nicht sicher“, erwidere ich. „Ich versuche zu verstehen wie etwas, das eigentlich widersprüchlich ist, dennoch zusammen gehören kann. Glück im Unglück zum Beispiel. Wie kann man sich freuen, wenn man eigentlich weinen möchte?“

 

Neugierig sucht sie meinen Blick. Als wir uns treffen, sagt sie mit einem Schmunzeln: „Ich glaube, ich verstehe was du meinst. Ist es nicht eben so ein Gefühl, das man bei Menschen hat, die einem wichtig sind?”

 

„Das verstehe ich nicht“, flüstert es aus mir heraus. „Du meinst Liebe ist widersprüchlich?“  

 

„Was ist denn Liebe anderes als eine Mischung aus Glück und Unglück? Aus guten wie schlechten Zeiten? Ist das denn kein Widerspruch?“ 

 

„In Ordnung“, sage ich, „aber ich verstehe noch nicht, was du damit meinst."

 

Ihr Blick löst sich von mir und schweift zurück zum See. Einen Moment lang verharrt sie in dieser Position. Ich liebe es, wenn sie so schaut, tief in ihren Gedanken, während ihr Denken so weit reicht. 

Erst leise, dann immer kräftiger beginnt sie zu sprechen: 

„Was denkst du beispielsweise über die Sehnsucht? Ist Sehnsucht nicht ein einziger Widerspruch? Der Kopf verlangt das Gegenteil von dem was das Herz verlangt. Hin und her gerissen zwischen Gefühlen und Regeln verzweifelt man nach und nach. Wie ein Strudel aus negativen Gefühlen, der verhindert, dass man glücklich werden kann. Der Körper leidet darunter ebenso wie der Geist. Die Sehnsucht kann so stark sein, dass sie einen bis hin zum Suizid bringen kann. Sie ist also fähig ein eigentlich glückliches Wesen ins Unglück zu stürzen. Und das, obwohl die Sehnsucht aus der Zuneigung zu einem Menschen entspringt.“ 

 

"Die Sehnsucht“, sage ich, während ich meine Stirn in Falten lege. 

Schweigen umhüllt uns, und für eine lange Zeit sagt keiner von uns ein Wort. Draußen wiegt ein milder Wind die Bäume hin und her, und die Luft ist erfüllt mit dem Rascheln ihrer Blätter. „An diesem Ort singen sie ihre eigene Melodie“, denke ich mir, „selbst der Regen folgt seinem eigenen Takt, und lässt sich nicht aus der Ruhe bringen.“

So sitzen wir in trauter Zweisamkeit da, während die Welt sich weiterdreht und wir ihrem unablässigen Treiben lauschen. „Man weiß immer, dass man jemand ganz Besonderen gefunden hat, wenn man einfach mal für ’nen Augenblick die Schnauze halten und zusammen schweigen kann.“ Davon war bereits Mia Wallace in Tarantinos Klassiker Pulp Fiction überzeugt. Treffende  Worte, welchen ich mich nur anschliessen kann.

Ich nehme mir die Freiheit, in dieser Vertrautheit meine Gedanken schweifen zu lassen:

Während unserer Erfahrungen mit anderen Wesen, treffen wir zufällig auf jene, die wir ganz intuitiv als eine mögliche Erweiterung unseres Selbst erkennen. Sie verfügen über Fähigkeiten, die uns unbekannt sind. Sie sind schlicht anders als wir. Gleichzeitig aber verfügen sie über einen mächtigen Teil, der uns ähnelt und mit dem wir verschmelzen können. Stimmt das Verhältnis zwischen beiden, entsteht eine Verbindung, welche die Reibung an den Verschiedenheiten des Anderen aushalten kann. So beginnen wir den Anderen aufgrund seiner Verschiedenheit zu bewundern und gleichzeitig zu verurteilen, während wir uns mit den Gemeinsamkeiten verbinden. Je stärker diese Verbindung, desto intensiver können sich unterschiedliche Überzeugungen und Erfahrungsinterpretationen aneinander reiben. 

Diese Reibung ist pure Energie, die sich nicht allzu selten auf heftigste Weise entladen kann. Dabei ist sie die gleichzeitige Synchronisierung zweier unterschiedlicher Interpretationen der Wirklichkeit. Doch innerhalb dieser Synchronisierung erschafft sich bei Übereinkunft eine ganz neue, aus zwei verschiedenen stammende Interpretationen der Wirklichkeit und damit ein stärkeres Bewusstsein von sich selbst und der Umwelt. 

 

Das Leben richtet sich jedoch nicht nach einem Ideal und bei einer Vielzahl von Wesen kann es das auch nicht geben. So treffen wir im Leben auf Wesen, die unsere Interpretationen erweitern. Es sind Gefährten einer Entwicklung. An manchen Gefährten ist die Reibungsenergie so groß, dass wir sie nicht ertragen können. Jene also, mit denen wir nichts zu tun haben wollen, weil sie so anders sind. Doch ebenso gibt es viele, bei denen ein stärkeres Gemeinsames entstehen konnte. 

Wenige jedoch schaffen es in unsere Gedankenkarusselle. Diese Handvoll Menschen, um die sich unsere Gedanken Tag um Tag drehen, sind unserer engerer Kreis. 

 

Wenn wir älter werden, entwickeln wir Verhaltensmuster, die sich seit frühester Kindheitsphase ausbilden und sich im maßgeblichen nicht wirklich verändern. Außer, dass sie durch die Unmengen an Erfahrungen, die wir durch eben sie machen, immer komplexer werden. Der Kern in der Kindheit bleibt jedoch erhalten. 

Wenn wir also auf jene Gefährten treffen, ähneln sie uns in diesen tiefliegenden Kernen. Sie erwecken in uns ein Vertrauen, eine Wärme, ihre Anwesenheit ist schlicht angenehm für uns. So beginnen wir den Anderen um seiner Selbst willen zu schätzen. Wir lieben ihn für das Angenehme, das er in uns bewirkt. Erkennen seine Verschiedenheit zu uns an, wie wir ihn dafür schätzen, da sie beide von uns erweitern kann. 

Jedoch braucht dieser Zustand eine gewisse Zeit, um zu entstehen. Diese intensive Bekanntmachung von Zelle zu Zelle schafft eine stetige Verschmelzung von insgesamt 120 Billionen Zellen. 

Innerhalb dieser Zeit ist es jedoch nicht nur an den beiden Wesen, ob diese Verschmelzung gelingt. Denn obwohl die individuelle Aufeinanderabstimmung schon hoch komplex ist, bedarf es noch einer Vielzahl von glückenden Situationen. Eben diese sind ein Einflussfaktor, den die Verbindung überwinden muss, um zu bestehen. Daher ist es nicht selten, dass sich die Wege wieder trennen können. Jedoch sind Gefährten, mit denen wir schon einen Teil des Weges gegangen sind, auch solche gewesen, die gemeinsam mit uns die ein oder anderen Hindernisse überwanden. Sie sind uns ans Herz gewachsen. Die Weggespräche haben einander vertrauter gemacht und man erkennt die Besonderheit des anderen Wesens immer stärker an und erfreut sich an ihr. Eine Trennung des gemeinsamen Weges bedeutet immer den Verlust angenehmer Gefühle. Wir beginnen zu trauern. 

 

Die Traurigkeit über den emotionalen Verlust überwältigt uns zuweilen und wir werden sehnsüchtig. Es drängt uns, das entstandene Loch wieder zu vervollständigen. Wir vermissen das Angenehme, das der andere in uns bewirkt. Und so versuchen wir es erneut. Je intensiver die Sehnsucht, desto unbedingter wollen wir es und bestärken, die Bereitschaft zu handeln. 

Wer sich selbst nicht kennt, verliert dabei oft den Boden unter den Füßen und verliert sich in einem Strudel aus sich gegenseitigen zerstörerischen Elementen. Je stärker der Zwang, desto weniger der Erfolg. 

Dieser sehnsüchtige Kampf blockiert dabei nicht nur die Veränderung der Situation, sondern allen voran die eigene Energie. Wer niemals locker lässt, der verkrampft sich und wird steif. 

Die Sehnsucht birgt eine unheimliche Gefahr in sich. Sie kann einen Menschen dazu bringen sich selbst aufzugeben. Die Selbstaufgabe jedoch ist der absolute Nullpunkt der eigenen Existenz. Es ist dann lediglich eine Frage der Zeit, bis sie aufhört zu sein. 

Wir müssen begreifen, dass manches nicht in unserer Hand liegt. Es besteht immer die Möglichkeit unsere Hand danach auszustrecken und wenn wir Glück haben, dann bekommen wir noch zu greifen, wonach wir uns strecken. Jedoch müssen wir aufhören es zu versuchen, wenn wir selbst daran zu Grunde gehen. 

 

Es ist kein Geheimnis, Zwang blockiert wie ein Stein in einem Fluss. Je größer der Stein, desto stärker behindert er das Fließen des Stroms. Dabei kann er ihn jedoch in der Konsequenz nicht von der eigentlichen Fließrichtung abhalten. Vielmehr lässt sich die Richtung des Stroms auch nur beeinflussen, sofern man in ihm schwimmt und sich ihm nicht in den Weg legt. Das gezielte Schwimmen jedoch ermöglicht das Beeinflussen. Das Ziel bei Sehnsucht sollte jedoch nicht zwanghaft auf dem liegen, was das Ego will. So sollte man nicht das vermisste Wesen zurück haben wollen und dies zum Ziel setzen.
Ein richtiges Ziel definiert sich nicht im-Haben-wollen, sondern im-Geben-können. So viel geben wie möglich und dabei so wenig nehmen wie nötig. 

 

Die Sehnsucht ist eine mächtige Emotion. Sie kann ein menschliches Wesen bis zur Selbstaufgabe erschöpfen. Das Herz strebt nach dem Angenehmen, doch der Kopf blockiert und verwirrt das Herz durch seine erfolglose zwanghafte Zielsetzung. Dieser Zwang blockiert jedoch die Einigung zwischen Kopf und Herz. Und so verliert der Kopf allmählich immer mehr den Bezug zu seinem eigentlich lebensfrohen Wesen. Die ständigen Misserfolge in Bezug auf das Zurückerhalten eines vermissten Wesens erzeugen eine Müdigkeit, die sich immer mehr auf das Leben legt. So verlangsamt sich der Schritt des Herzens. Der Kopf verliert die Hoffnung, da er all seinen Überlebenswillen an eine Vorstellung gekettet hat, die sich nicht erzwingen lässt. Mit der Zeit erschöpft sich der Kopf immer mehr im Aufrichten seiner Haltung und verliert allmählich die Kraft sich oben zu halten. Der finale Nullpunkt dieser Fließrichtung ist die totale Selbstaufgabe im bewussten Ansteuern des immer schwerer ablenkbaren Abgrundes, der sich vor dem Herz auftut. Die eigentliche Frohnatur des inneren Kindes verliert sich zunehmens im Nichts der Gedanken. Wie ein schwarzes Loch verschluckt der Kopf sämtliches Licht. Mit dem letzten Schritt über die Kante verliert sich das Wesen im Dunkeln und hört auf zu sein.  

Wir sehen also, die Energie der Sehnsucht ist so mächtig, dass sie den stärksten Willen, den Überlebenswillen, überwinden kann. Wenn wir es jedoch schaffen, diese Energie für uns nutzbar machen zu können, indem wir sie nicht gegen unser Wesen, sondern mit unserem Wesen ausrichten. 

Das heißt, sobald wir diese Emotion nicht mehr negativ sondern positiv betrachten, gewinnen wir
daraus Energie. 

 

„Was du liebst lass frei. Kehrt es zurück, bleibt es dir für immer.“ - Jedoch sollte es wissen, dass du es liebst. 

 

Es ist für ein Wesen in Sehnsucht nicht einfach den Verlust einer starken Emotion auszuhalten. Jedoch müssen wir uns vorstellen, dass die Trauer des Verlustes emotional zunächst gleich stark ist wie die vorangegangene Freude über das Dasein. Wir entscheiden uns ob wir unsere weitere Energie in die Trauer oder in die Freude leiten. Diese Umleitung geschieht durch den Fokus, den wir uns aussuchen. Steigern wir uns in die Emotion des Verlustes, wird dieser immer stärker, wohingegen die Freude immer schwächer wird. Konzentrieren wir uns aber auf die Freude, verstärken wir auch diese. Jedoch ist ebenso hier das Maß entscheidend. Wie im Rest der Evolution gibt es auch hier keine klare Grenze. Vielmehr müssen wir erkunden, wie viel Trauer wir aushalten, dabei aber stets auf uns achten, um zu erfühlen, wann es uns zu viel wird. Mit anderen Worten:

So viel wie möglich trauern, jedoch nicht mehr als wirklich nötig. 

 

Doch was bedeutet das, wenn wir sehnsüchtig sind? Wie oben erwähnt, liegt es an uns, wohin wir unsere Energie fokussieren. Um dies entscheiden zu können, wird vorausgesetzt, dass man sich darüber im Klaren ist. Diese Klarheit stellt sich jedoch erst ein, wenn wir davon absehen, uns selbst zu verurteilen. Es ist in Ordnung den Verlust einer emotionalen Bindung zu einem anderen Wesen zu betrauern. Gerade die ehrliche Trauer kann einen von dem Verlust befreien. Diese erfolgt jedoch nur nach der Akzeptanz des eigenen persönlichen Scheiterns in dieser Situation. Doch was ist Scheitern anderes als der Beginn einer neuen Entwicklung. Wenn der Sehnsüchtige also seinen Misserfolg akzeptieren kann, kann er ehrlich darüber trauern und nur so die Erfahrung abschließen. 

 

Es heißt, jeder Topf findet seinen Deckel. Aber wenn der Deckel zu klein ist und droht verschluckt zu werden, ist es besser, er geht, bevor er zu Grunde geht.  

 

Das Leben ist Flexibilität und wer sich zu steif verhält, verkeilt sich irgendwann und bleibt zurück. Das Interessante daran ist, dass die Lösung dieser Blockade zuweilen gerade dazu führt, was sie so zwanghaft zu greifen versuchte. Oder ist es nicht so, dass wenn wir loslassen, alles viel einfacher geht? 

Um eine Verbindung zwischen zwei Wesen erneut zu ermöglichen, braucht es Freiraum. Ein offenes Feld, auf dem man sich wieder begegnen kann. Eines, das keine Erwartungen an das andere Wesen stellt und ihm mehr Wärme gibt, als es nimmt. So heißt es also: 

 

Was du liebst, lass frei. Wenn es zu dir zurück kommen kann, weil du ihm die Freiheit dazu gibst, dann bleibt es dir für immer. 

 

Mein Blick löst sich von den Wolken verhangener Gipfel der Berge, die den See umschließen.
Allmählich erhellt die Sonne das Schauspiel vor den Fenstern. Doch auch der Regen will noch nicht weichen. Scheint so, als ob das Wetter genauso unentschlossen ist, wie meine Gedanken.

 

Plötzlich schreckt sie aus dem Schlaf auf, in den sie gefallen sein muss.

„Da, schau!“ ruft sie begeistert, während sie mit ausgestrecktem Arm in Richtung des Sees zeigt. „Zwei Regenbögen gleichzeitig!“ 

Regen und Sonne gleichzeitig, denke ich. Wie wunderschön Widersprüche doch sein können.  

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