Nächtliche Gespräche

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Es dauert einige Zeit, bis ich mich aus der Umarmung lösen kann. Es ist viel passiert, seit wir uns das letzte Mal gesprochen haben. In der Zwischenzeit bin ich größer geworden. Habe viele neue Erfahrungen gemacht, die meine Überzeugungen immer wieder anders definierten. 

Zunächst hatte ich ihm die Hand gereicht, und wir begrüßten uns wie früher mit einem Kuss auf jede Wange. Es gibt nur einen Menschen auf der Welt, den ich so begrüße. Daher ist seit dem letzten Mal einige Übung verloren gegangen, wobei das Gefühl dasselbe geblieben ist, wie beim letzten Mal. 

 

„Wie geht es dir?“, frage ich aufgeregt. 

 

Mir geht es sehr gut, danke. Dass es dir gut geht, sehe ich!“, entgegnet er mit einem Lächeln. 

Ich schmunzle verlegen. 

 

„Ja, in der Tat, mir geht es prima! Es ist, als ob ich mein Schicksal erkannt habe, und es ist großartig!“, platzt es aus mir heraus. Wir haben uns solange nicht gesprochen, dass ich kaum an mir halten kann. So viele Fragen rasen durch meinen Kopf. Vieles hat sich angestaut und drängt an die Oberfläche. Kurze Zeit nach unserem letzten Wiedersehen, fiel ich in einen eisigen Sog aus Angst und Ohnmacht. Ich hatte seither keine Gelegenheit gehabt, ihn zu besuchen, obwohl er wohl der Einzige gewesen wäre, dessen Rat mir wirklich geholfen hätte. Wie dem auch sei, seine warme Stimme besänftigt alle bedrückenden Gedanken aus jener Zeit. 

 

„Ich habe gesehen, du hast nochmal angefangen zu studieren. Wie es scheint, hast du das Denken nun zu deinem Beruf gemacht. Wenn ich an unsere Gespräche aus deiner Kindheit zurückdenke, freut mich das umso mehr. Es macht mich ungemein glücklich, dich so erfüllt zu sehen“, berichtet er mir, während wir uns an den Wohnzimmertisch setzten. Seit dem letzten Mal hat sich kaum etwas verändert. Das Sofa, der Tisch, der Sessel alles ist an seinem Platz. Und dennoch ist da etwas, das anders ist. Ein Gefühl, das sich schwer auf die unendliche Freude legt, die meinen Körper im Moment durchdringt. 

 

Nach kurzer Zeit beschließe ich, dieses Gefühl nicht weiter zu beachten. Zu viele Dinge liegen mir auf der Zunge. Zu viele Gespräche, die nachgeholt werden müssen, blockieren ein unvoreingenommenes Fühlen. Ich suche seinen Blick. Als ich ihn finde, betrachten wir uns eine Weile. Es gibt diese Momente, die sich wie eine Ewigkeit anfühlen und dennoch stets zu früh enden. Mit festem Blick sieht er mich an. In seinen Augen entdecke ich mein Spiegelbild. 

 

"Wieso bist du gegangen?“, breche ich das Schweigen.

 

Ich verstehe, warum du mich das fragst“, antwortet er endlich. „Doch du musst wissen, es gibt Entscheidungen im Leben, die nur eine Handlungsoption übrig lassen“, spricht er weiter, während sein Blick auf die Birke im Garten fällt. „Wir sind frei in der Entscheidung unser Schicksal zu wählen, jedoch bedeutet das einen Punkt, an dem es kein Umkehren mehr gibt. Und in jenem Moment erkennst du, dass es keine andere Möglichkeit gibt, als genau diese eine. Auch du wirst diesen Zeitpunkt erleben. Du sagtest vorher, du hast dein Schicksal erkannt und du findest es großartig. Genau diese Gewissheit ist es, die dich wirklich frei machen kann.“

 

„Also war es Teil deines Schicksals, dass du gegangen bist?“, frage ich erneut. 

 

Du kannst es Schicksal nennen, wenn du es dir so vorstellen kannst. Im Grunde geht es um eine Gewissheit. Die Gewissheit im Leben zu wissen, wer man ist, wo man herkommt, was man ist und wohin man gehen wird. Der Mensch betritt diese Welt mit einem Kopf voller Neugier und Fragen. Wenn wir heranwachsen, bilden wir unsere ersten Überzeugungen, die mit der Zeit zu immer fester werdenden Glaubenssätzen heranwachsen. Dabei vergessen wir oft, dass Überzeugungen genau wie Meinungen keine Gewissheit über das eigene Selbst geben können. Wir denken viel zu häufig in Prinzipien, ohne diese zu hinterfragen. Dabei verlieren wir nach und nach den Bezug zu uns. Wer immer nur nach Regeln lebt, der lebt innerhalb der Norm, ist also normal. Doch was weiß die Norm schon vom Einzelnen?
Sicher nichts gewisses. Doch eben dies verlangt die Gewissheit.“ 

 

„Aber ist der Tod nicht die einzige Gewissheit?“, entgegne ich ihm. 

 

Das ist richtig, doch der Tod ist nicht nur das. Vielmehr ist er die letzte Gewissheit, die ein menschliches Leben hat. Er hat daher einen besonderen Wert. Er ist nicht einfach nur das Ende des Lebens. Er ist die Krönung. Was wäre das Leben ohne den Tod? Ein unendliches Auf und Ab. Eine Reise ohne Ziel. Lediglich in der Gewissheit des Todes lässt sich die Besonderheit des Lebens ableiten.“ Mittlerweile beobachten seine Augen eine Taube, die sich zwischen Birke und Tanne nicht entscheiden kann. Letztlich bleibt sie auf einem Ast der Birke sitzen. Dennoch wirkt sie mit dieser Entscheidung nicht richtig glücklich. „Es gibt sicherlich genug gut gemeinte Erklärungen für den Tod. Viele davon sind jedoch lediglich verstehbar, nicht aber begreifbar. Der Unterschied liegt im Fühlen. Nur wer den Tod begreift, weiß auch, wie er sich anfühlt. Und letztlich ist das Gefühl das einzige, was unsere Erfahrung erweitern kann. Der Mensch hat Angst vor dem Tod, weil er ihn nicht begreift. Seit sich der Mensch die Frage nach dem Woher stellt, fragt er auch wohin. Er ist besessen davon, unsterblich zu werden, weil er sich so fürchtet. Den Tod zu begreifen, heißt jedoch ihn zu erleben. Bisher aber kam niemand zurück, der wirklich tot war. Doch bedeutet das auch, dass die Seele davon betroffen ist?" 

 

„Naja, wenn du davon ausgehst, dass es eine Seele gibt, kannst du diese Frage stellen. Was aber, wenn dem nicht so ist?“ 

 

„Jeder von uns hat eine gewisse Vorstellung von sich im Kopf. Zeit unseres Lebens erschaffen wir ein Bild von uns. All unsere Überzeugungen und Erlebnisse fließen in dieses Bild ein. Wir brauchen diese Vorstellung von uns selbst allein schon deshalb, weil wir ohne nicht wissen, wer wir eigentlich sind. Wir bilden unseren Charakter mit den Vorstellungen, die wir von uns haben. Wir verhalten uns so wie wir glauben, dass es richtig ist. Die Vorstellung von uns als solch eine „Person“ erfordert eine Selbstinszenierung. Anderenfalls könnte ich mich nicht von den anderen Personen differenzieren. 

Wir vergessen dabei oft, dass Vorstellungen, völlig egal, ob von uns oder der Welt um uns herum, alles elektrische Signale sind. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Auch heute noch findet sich in keinem Gehirn ein Abbild der Realität. Ebenso wie es keine physische Abbildung von Erinnerungen im Gehirn gibt. 

Wenn Vorstellungen also nichts anderes als elektrische Signale sind, dann ist die Vorstellung von uns selbst auch ein elektrisches Signal. Dieses Signal von uns versuchen wir in den Vorstellungen unserer Mitmenschen zu integrieren. Die Vorstellung, die wir von uns selbst haben, ist jene, die wir unseren Mitmenschen kommunizieren, ob wir wollen oder nicht. Glauben wir von uns selbst, wir sind ein selbstbewusster, starker Charakter, wird unser Umfeld genau diese Vorstellung von uns im Kopf haben. Im gleichen Maße ist aber auch das Gegenteil der Fall. Wer nämlich von sich selbst denkt, unsicher und unfähig zu sein, wird eben diese Vorstellung kommunizieren, indem er sich so verhält. Wenn also die Vorstellung von uns sowas wie unsere Identität ist, da wir anhand von ihr unsere Entscheidungen treffen, dann ist sie vielleicht sowas wie unsere Seele, findest du nicht?“

 

„In Ordnung, aber gehört zur Seele nicht auch etwas Tiefergehendes als nur irgendwelche Überzeugungen und Vorstellungen?“, bemerke ich forsch. 

 

„Sicher, die Seele ist letzten Endes unser wahres Selbst. Bevor du jedoch hierzu durchgedrungen bist, musst du den Umweg über deine Überzeugungen machen und deine Vorstellung beständig hinterfragen. Das ändert jedoch nichts an dem zuvor Gesagten. Denn auch das bedingungslose Dasein ist wie ein stiller Beobachter, der die Welt um sich herum betrachtet, wobei er dieses Bild, das er von ihr erstellt, in sich erzeugt. Und zwar in Form von elektrischen Signalen. Worin liegt also der Unterschied zwischen den elektrischen Signalen deiner Vorstellungen und denen aus deinen Träumen? Für den stillen Beobachter in dir besteht hierin keiner! All deine Vorstellungen, ob du sie als Realität oder Traum bezeichnest, finden in deinem Kopf statt, nirgendwo sonst!“

 

Erwartungsvoll blickt er mich an. Ich bin mir nicht sicher, ob ich alles verstanden habe, denke ich. Meine Gedanken sind völlig durcheinander. Was ist real, was Einbildung? Worin liegt der Unterschied, wenn selbst das Reale nur in meinem Kopf stattfindet, sozusagen eingebildet ist. 

„Gibt es denn einen Unterschied?“, frage ich nun endlich.

 

„Nun, der Unterschied liegt in der kollektiven Übereinstimmung der Gesellschaft. Also der Vorstellung einer Gemeinschaft, ihr Charakter, ihre Kultur. Wenn die Mehrheit dir Recht gibt, dann ist es auch wahr. Jedoch ist die Vorstellung der Gesellschaft ein etwa ebenso adäquater Beweis wie das Individuum. Wenn es also außer diesem relativen Unterschied noch einen gibt, habe ich ihn nicht entdeckt.“

 

„Aber was bedeutet das nun für die Seele?“, will ich wissen. 

 

Die Seele des Menschen ergibt sich also aus seinen Erfahrungen und Erlebnissen. Diese erzeugen eine Vorstellung, die wir von uns selbst haben und mit der wir uns identifizieren. Diese Vorstellung kommunizieren wir, ob gewollt oder ungewollt, an unser Umfeld. Das heißt die Vorstellung, die wir von uns selbst haben, entwickelt sich eins zu eins in den Köpfen unserer Mitmenschen. Je mehr Einfluss wir auf diese haben, umso genauer wird unser Bild in ihren Köpfen, ebenso wie sich ihr Bild in unseren Köpfen manifestiert. Der Tod ist hierbei nicht das Ende. Denn ob das elektrische Signal, das in deinem Kopf deine Vorstellung von dir selbst erzeugt, in deinem oder in einem andern Kopf aufflackert, macht hierbei keinen Unterschied. 

Wenn ein für uns wichtiger Mensch stirbt, sprechen wir davon, dass er in unseren Köpfen und Herzen weiterlebt. Aufgrund der Tatsache, dass sich offenbar kein Unterschied zwischen elektrischem Signal und elektrischem Signal finden lässt, überlasse ich es nun dir, wie du dieses Sprichwort interpretierst.“

 

„Was also ist der Tod?“

 

"Der Tod ist die letzte Gewissheit. Das Leben besteht in einem Suchen. Sobald wir auf der Welt wandeln, suchen wir. Der eine findet sein Glück im Unglück, der andere in Geld, Macht und Vergnügen. Wenige jedoch finden die Gewissheit. Doch das Leben ist gut zu uns. Selbst wenn wir unser ganzes Leben den falschen Zielen hinterher jagen, am Ende erfahren wir die letzte und einzige Wahrheit. 

Der Tod ist hierbei wie das Fahren mit einem selbstfahrenden Auto. Du sitzt bequem, beobachtest das vorbeiziehende Treiben vor den Fenstern. Du lauscht den Geräuschen, fühlst die Atmosphäre. Du bewertest nicht, du verurteilst nicht, du nimmst keinen Einfluss auf die Situation. Das einzige, was du beeinflussen kannst, ist die Zeit. Im Tod bist du unendlich, du kannst dem Bordcomputer sagen, er soll in der Zeit vor oder zurück, jedoch kannst du nicht rechts und links. Aber wozu solltest du auch, schließlich weißt du die Richtung. 

Der Mensch sucht sein ganzes Leben, und im Tod erfährt er die letzte Wahrheit. Nämlich, dass in einem Kreislauf alles kreisläuft, und es in einer Unendlichkeit kein Ende und kein Anfang gibt, denn der Anfang eines Kreises ist auch sein Ende. 

Im Tod hört der Mensch auf zu suchen. Er hat gefunden, wonach er sein Leben lang Ausschau gehalten hat. Er kann nun aufhören zu hinterfragen, zu beurteilen, zu verurteilen und zu bewerten. Er darf einfach sein, indem er aufhört es zu wollen. Im Loslassen erfährt der Mensch das größte Glück. 

Sterben ist nichts, was dich ängstigen muss. Vielmehr solltest du während du lebst, weniger Glück suchen und mehr davon finden. Hör auf, dein Glück zu suchen, du wirst es ohnehin finden, spätestens am Ende deines Lebens, das ist gewiss. 

Das schöne ist, je früher wir beginnen unser Glück zu finden, indem wir uns dazu entschließen, desto mehr haben wir Zeit unseres Lebens die Möglichkeit, zu erschaffen. Wer weiß, wer er ist und wohin die eigene Reise geht, verliert keine Zeit beim Suchen. Wer jedoch Zeit hat zu wirken, wird den Menschen in seinem Umfeld auch nach seinem Tod noch im Kopf sein. Denn wer wirkt, der bewirkt, und wer bewirkt,  der wirkt auch nach seinem Tod weiter.“

 

Ich weiß nicht mehr, was ich denken soll. Viele neue Informationen, die mich unablässig verwirren. Ist der Tod wirklich nur die letzte Gewissheit des Lebens? Bin ich also wirklich unsterblich? Wer bin ich dann, wenn ich unsterblich bin? Denke ich als unsterbliches Wesen überhaupt noch? Und bin ich dann noch, wenn ich nicht mehr denke? Was wohl Descartes dazu gesagt hätte?

 

„Ich denke, ich verstehe, was du mir sagen willst. Es gibt eine Zeit im Leben, und es gibt eine Zeit, da ist es Zeit loszulassen und zu gehen“, murmele ich mit gesenktem Blick. Meine Stirn liegt in Falten und mich überkommt allmählich eine erschöpfende Müdigkeit. 

Als ich ihm wieder in die Augen blicke, lächelt er mir zu und nickt. 

 

„Ich bin stolz auf dich! Ich weiß du wirst deinen Weg gehen und ich bin stolz auf den Weg, den du für dich gefunden hast. Es hat mir das Herz gebrochen, dich zurück zu lassen, aber ich wusste, du würdest es verstehen“, flüstert er. In seinem Lächeln erkenne ich seine endlose Liebe, in seinen Augen erkenne ich mich selbst. Eine Träne rinnt seine rötliche Wange herab. Ich spüre allmählich wie mich die Müdigkeit überwältigt. Mit feuchten Augen lehne ich mich auf dem Sofa zurück. Wir betrachten uns noch eine Weile, bis sich meine Augen schließen. „Ich liebe dich!“, ist das letzte, das ich noch verstehe, bevor ich mich der Müdigkeit hingebe und einfach loslasse. 

 

Als ich meine Augen wieder öffne, blickt mir die Decke meines Schlafzimmers entgegen. Ich spüre die Nässe in meinen Augen. Habe ich geweint? Ich bin verwirrt, weiß nicht was ich denken soll. Ich weiß  wo ich bin, jedoch nicht, wie ich hierher gekommen bin. Habe ich geträumt? 

 

Als ich aufstehe, ist es draußen noch dunkel. Ich gehe ins Wohnzimmer und blicke in den Garten. Der Mond leuchtet hell am dunklen Nachthimmel. In seinem Licht wirkt die Birke wie ein vertrauter Freund.

„Ich liebe dich auch Opa!“