Über Flow

20190315_195713.jpg

Ich schlage die Augen auf. Mein Blick richtet sich zur Decke, es ist jedoch zu früh um etwas von ihr erkennen zu können. Zu dunkel ist die Nacht noch. Als ich auf die Uhr sehe, blinkt mir 4:30 Uhr entgegen. Ich bin hellwach, ausgeschlafen sozusagen. Ich greife nach der Taschenlampe neben meinem Bett. Mir wurde gesagt, man soll nicht im Dunkeln herum laufen, da man auf etwas treten könnte, das beißt. Darauf hatte ich  geantwortet, dass ich auch beißen würde, wenn mich jemand treten würde. Die Einvernehmlichkeit dieser Tatsache leuchtet mir nun also den Weg aus dem Schlafzimmer, da etwas in mir nach draußen drängt. 

 

Als ich die Tür hinter mir schließe, bemerke ich den Unterschied. Die Luft, die mich empfängt, ist salzig und klamm. Meine Sinne sind geschärft, da es außer dem Lichtkegel meiner Taschenlampe kein Licht gibt. Außerdem hat das Strandhaus, in dem ich mich befinde keine Fenster aus Glas, sondern aus Fliegengittern. Schlicht und ergreifend, weil es ein Strandhaus ist und keine Glasfenster braucht. Der Vorteil daran, man ist praktisch draußen, wobei man eigentlich drinnen ist. So vermischt sich das Wellendonnern, das Zirpen und Quietschen der Waldbewohner mit dem Surren des Kühlschrankes. 

 

Plötzlich überkommt mich der Wunsch nach Meer, und ich entscheide mich dazu, mich diesem Wunsch hinzugeben und gehe zur Haustür. Bevor ich sie jedoch öffne, halte ich inne. Seit ich aufgewacht bin, sind wohl mittlerweile keine fünf Minuten vergangen. Ist es klug im Dunkeln irgendwo im Nirgendwo nachts allein durch den Wald zum Wasser zu laufen? Doch noch bin ich zu schlafwarm, als dass mir dieser Gedanke kalt den Rücken runter laufen könnte. Ich lösche das Licht der Taschenlampe und lege sie auf den Tisch. Ich werde sie am Wasser nicht brauchen, denke ich mir vertrauensvoll und verlasse die Kulisse. Der Weg bis zum Strand ist kurz. Er schlängelt sich kaum zwanzig Meter durch ein kleines Stück Dschungel und schon bist du da. Außer mir sonst niemand, nicht unbedingt wegen der Uhrzeit, vielmehr weil das Strandhaus keine Nachbarn hat. Meine Schritte sind langsam und vorsichtig. Ich will mich und die Tiere, die meinen Weg kreuzen, nicht unnötig erschrecken, zumal ich sie nicht sehe und mich vermutlich am schlechtesten hier auskenne. 

Ich lausche den immer lauter werdenden Wellen und lasse mich sicher von ihrem Klang leiten. Als ich die Waldkante erreiche und am Strand stehe, empfängt mich das Licht des Mondes und der unzählbaren Sterne. Ich Blicke auf das Meer. Es ist so schwarz, dass es mich vielmehr an Öl als an Wasser erinnert. Wie eine riesige schwarze Masse liegt es geheimnisvoll brodelnd vor mir. 

 

Ich liebe das Meer, doch bei diesem Anblick fröstelt es mich. Du bist ganz allein, denke ich, während sich ein Fuß vor den anderen setzt. Als das Wasser meine Füße umspült, spüre ich die Kälte meine Beine hinaufkriechen. Ich kann nicht widerstehen. Ein letzter Blick nach oben. „Lass los“, flüstert mir der Mond zu, und ich lasse los. Schritt für Schritt umschlingt mich das kalte Dunkel. Sollte das Universum heute beschließen mich zu verschlucken, es würde mich nicht beunruhigen. Trotz der immer leiser werdenden Stimme der Sorge in meinem Hinterkopf, fühle ich immer mehr Sicherheit. Als ich bis zum Hals im Wasser eingetaucht bin, atme ich ein letztes Mal tief ein, tauche unter und lasse los. Das Entspannen meiner Muskeln treibt den Sauerstoff aus meinem Körper. Ich sinke. Ich spüre die Strömung, wie sie meine Haare hin und her wiegt. Mein Herz, das immer langsamer zu schlagen beginnt. Fast so, als ob es sich an den Rhythmus der Wellen angleicht. Mit geschlossenen Augen gebe ich mich der Schwerelosigkeit hin. Das Dunkel um mich herum ist so intensiv, dass es sich mit Nichts vergleichen lässt. Die Kälte tut ihr übriges. Ich sinke immer tiefer, ob ich zu weit hinaus geschwommen bin? Doch kein Grund zur Besorgnis, der Reflex nach Sauerstoff ist noch nicht bemerkbar. Ob man den wohl einfach ausschalten kann? 

 

Als ich meine Augen öffne und das Wasser auf meine Netzhaut trifft, vertreibt das kalte Gefühl die letzten Reste des Schlafes. Weit und breit um mich herum ist nichts zu erkennen, und dennoch sehe ich so klar wie noch nie in meinem Leben. Das Dunkel schafft die Illusion des Nichts. Oben wie unten, rechts wie links, hinten wie vorne, nichts scheint noch einen Sinn zu machen und gerade darin liegt die Klarheit. Ohne einen Muskel zu bewegen, offeriere ich mich als Spielball den Gezeiten. Angetrieben von den Strömungen des Ozeans. Ich ruhe in Frieden, vielleicht habe ich auch Frieden in der Ruhe, aber das ist im Moment nicht wichtig. Nichts davon ist im Moment wichtig. Ich beginne zu lächeln. Dabei strömt die dunkle, salzige Masse in mich hinein. Innen wie außen, was macht das schon? Ohne Schwerkraft fühle ich mich aufgehoben, unendlich, glücklich. Das Meer ist mein Schicksal. Ich bin lediglich ein Teil davon, doch ich weiß, ich muss mir keine Sorgen machen. 

 

Plötzlich bemerke ich etwas tief in mir. Auf Höhe des Solarplexus, in der Mitte meines Oberkörpers, regt sich etwas. Ein vorsichtiger Druck macht sich breit. Ich beobachte, wie dieses Gefühl immer stärker wird. Es braucht eine Weile, bis ich zu verstehen beginne. Meinen Körper dürstet es nach Sauerstoff. Ich beginne mich in Bewegung zu setzen. Ich blicke dahin wo ich glaube, dass oben ist, und schwimme los. Ich fühle, wie sich das Wasser verändert. Es wird wärmer, wandelt sich vom Schwarzen zum Gräulichen. Der Mond erhellt die obersten Schichten und ich weiß, meine Richtung führt zum Ziel. Als ich die Wasseroberfläche durchbreche, inhaliere ich tief meinen ersten Atemzug. Ich fühle, wie sich meine Bronchien mit Sauerstoff füllen, mein Herz wieder schneller zu schlagen beginnt, ich allmählich wieder zurück bin. 

 

Ich lasse mich noch eine Weile von den Wellen treiben, fühle die Kraft des Wassers und ströme mit ihm. Als ich Richtung Strand zurück schwimme, beginnt die Sonne allmählich die Szene zu erhellen. Erste Farbspektren glitzern auf der Wasserfläche. Ich sehe einen Schwarm Pelikane, der so dicht über die Wasseroberfläche gleitet, dass sie ihre Flugbewegung den Wellenbewegungen angleichen müssen, um nicht nass zu werden. Die Aerodynamik ihrer Flügel und die unterschiedlichen Luftströme dicht über den Wellen geben ihnen Auftrieb, sodass sie fast von allein fliegen. Ich wundere mich darüber, wie sie es dennoch schaffen alle gleich schnell und in Formation zu bleiben. Das Bild erinnert mich an einen Fischschwarm. 

 

„Go with the Flow“, flüstere ich.

 

Fasziniert blicke ich ihnen nach und breite wieder meine Arme aus. Die letzten Meter bis zum Strand gleite ich mit den Wellen. Luft und Wasser, beides Elemente, beides Moleküle, beides Wellen. Worin liegt der Unterschied, denke ich mir, während ich schwere Schritte an Land mache. 

Als ich beginne, meine Arme auszubreiten und mich langsam zu drehen, fühle ich die kühle Luft auf meiner Haut. Ich schließe meine Augen und stelle mir vor zu fliegen. Lasse mich treiben von dem, was ich unter meinen Füßen spüre, von dem, was mein Gleichgewicht mir sagt. 

 

Es geht um Balance, um Vertrauen und um Geduld. Es heißt, du musst gegen den Strom schwimmen um besonders zu sein, doch das Meer hat viele Strömungen und du wirst sogar an nur einer scheitern, wenn es nicht die richtige ist. 

 

Ich öffne die Augen, beobachte die Blätter der Palmen, die sanft im Wind hin und her wiegen. Das Rauschen der Wellen hinter mir, die aufkommende Helligkeit. Über dem Wald erkenne ich Dampf aufsteigen. Die Atmosphäre wirkt diesig. In den feinen Wassertröpfchen spiegelt sich das Licht der Sonne. Alles scheint ineinander zuströmen. Alles wiegt sich im Rhythmus der Gezeiten. Alles fließt. 

 

 „Der Unterschied liegt in der Wahrnehmung, nicht aber im Verhalten“, denke ich, als ich zu fliegen beginne.