Über das Reale

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Ich blicke in vertraute Augen. Friedvoll blicken sie mir entgegen und ich fühle mich geborgen. Die Sicherheit, die von diesen Augen ausgeht, ist die stärkste, die ich fühlen kann. Kein anderes Augenpaar erzeugt diese Gefühle. Gleichzeitig verunsichern sie mich jedoch auch. Wie kann das sein, frage ich mich, während ich dem Blick weiterhin standhalte. „Was siehst du?“, frage ich mit kaum hörbarer Stimme. Nichts. Leider erhalte ich keine Antwort auf meine Frage. Ich lasse jedoch nicht locker und frage erneut. „Was siehst du?“, nun etwas lauter. Doch auch dieses Mal hüllt sich mein Spiegelbild, das mich aus der glasigen Oberfläche anstarrt, weiterhin in Schweigen. 

 

Ich löse den Blick, lösche das Licht, verlasse die Situation und gehe langsam auf die Terrasse. Die Sonne geht gerade unter und die letzten Lichtstrahlen tauchen die Szene in ein sanftes Abendrot. Am Rande dieses Farbspektrums entstehen allmählich violett bläuliche Töne. Wie es scheint, wird die Nacht klar. 

Die Geräusche der anbrechenden Dunkelheit umhüllen mich und ich entscheide, mich der Kulisse hinzugeben und zu setzen. 

Zu meinen Füßen steht eine Liege und ich beschließe, dass dies wohl der beste Platz hierfür ist. Als ich mich halb sitzend, halb liegend niederlasse, beobachte ich das Schauspiel über meinem Kopf. Die Nacht hier ist so klar und dunkel, dass man unheimlich viele Sterne sehen kann. Der Himmel ist mittlerweile blauviolett und lediglich ein kaum sichtbarer, roter Farbton besteht auf sein Dasein. Nach und nach wird auch er verschwinden und Platz für das Licht der Sterne machen. 

 

Als ich meine Aufmerksamkeit auf die ersten aufglühenden Sterne richte, muss ich schmunzeln. Was für ein schöner Anblick. Ich frage mich, wie viele dieser Sterne noch da sind, und wie viele davon bereits verglühten, bevor mich ihr Licht erreichen konnte. Das Licht der Sterne benötigt schließlich eine Zeit bis es auf meine Netzhaut trifft und in dieser Zeit kann der Stern schon in sich zusammengebrochen sein, also schlicht nicht mehr existieren, wenn ich ihn sehe. Doch nachdem sich nun stetig mehr Sterne zu den Vorreitern gesellen, erkenne ich das Ausmaß meiner Frage. Wie soll man das je feststellen können bei so vielen Sternen? Vielleicht war das aber auch gar nicht so wichtig, schließlich hatte das ja keinen direkten Einfluss auf mich oder den Rest der Menschheit. 

 

Nach einer kleinen Weile verliere ich mich allmählich in Träumereien. Ich stelle mir vor, wie ein Stern zu einer Supernova wird und verglüht, noch bevor mich sein Licht erreicht. Als würde ich seinen Geist sehen, der auf dem Weg zu mir übrig bleibt, nachdem die Materie nicht mehr existiert. Ich fröstle bei dem Bild in meinem Kopf. „Das Licht des Sterns ist wie sein Geist“, murmle ich vor mich hin. Mit einem Kopfschütteln versuche ich den Gedanken an spukende Sterne wieder los zu werden. Konnte es so etwas geben? Ich versuche mir vorzustellen, was ein Geisterstern wohl anstellen würde. Würde er Kometen von der Wand rütteln wie Poltergeister Bilder? Oder wäre er vielmehr eine Art heiliger Geist? Plötzlich reißt mich eine Sternschnuppe aus meinen Gedanken. Für einen Moment schweigt alles in mir und ich betrachte die Stelle, an der ich den glühenden Schweif gesehen hatte, noch eine Weile. Sternschnuppen sind Gesteinsbrocken, die in der Erdatmosphäre verglühen, schießt es mir durch den Kopf. Was bedeutet das? Wir können sie also deswegen sehen, weil sie verglühen und dabei Licht erzeugen. Wenn wir Sternschnuppen sehen, sehen wir also vielmehr das Licht, das von ihnen ausgeht, wenn sie verglühen. Wie beim Stern sehen wir also auch bei der Sternschnuppe das Licht, das entsteht, wenn sie verglüht, also aufhört zu existieren. 

 

Ratlos über diese Erkenntnis bleibe ich bei dem Gedanken hängen. Was hatte ich beim Stern gesagt? Das Licht, das mich erreicht, kann mich auch lange nach dem Sterben eines Sterns erreichen, ebenso wie mich das Licht einer Sternschnuppe nur deswegen erreicht, weil der Gesteinsbrocken in der Atmosphäre verglüht, also aufhört zu existieren. In meiner Vorstellung sehe ich einen Gesteinsbrocken von der Größe eines PKWs, der in die Atmosphäre eintritt und zu leuchten beginnt. Je stärker er leuchtet, desto weniger wird das Gestein, aus dem er besteht. Ähnlich wie in den Dokumentationen, die ich über das Universum gesehen habe, stellt sich meine Fantasie dar. 

 

Ich halte den imaginären Prozess an, noch bevor der Stein komplett verglüht ist. Woher weiß ich, dass ein Gestein in die Atmosphäre eingetreten ist? Durch Licht! Woher weiß ich wo ein Stern ist? Durch sein Licht!

 

Mir wird schwindelig, ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Als ich mich von den Bildern in meinem Kopf befreie, blicke ich mich um. Die Nacht ist mittlerweile in ihrer Fülle da. Die Sterne über mir funkeln mich herausfordernd an. 

„Was siehst du?“, murmle ich. Ich blicke zu den glühenden Lichtern über meinem Kopf und erhalte keine Antwort. In mir macht sich eine Unsicherheit breit. Wie klein wir Menschen doch sind. Glauben zu wissen, wie die Welt funktioniert, dabei verstehen wir uns selbst nicht. Nichts kann einen so verunsichern, wie die endlose Weite des Universums. Doch als ich mich der Schönheit dieses Anblicks hingebe, fühle ich mich sicher. Wie friedvoll sie da oben funkeln. Die Dunkelheit um mich herum lässt es so erscheinen, dass außer den Sternen und mir nichts mehr existiert. Doch dann beginnt es neben mir zu flackern. Als ich hin schaue, sehe ich ein Glühwürmchen. Erst ist es nur eins, dann folgen weitere. Und ehe ich mich versehe, finde ich mich in einem Meer aus leuchtenden Lichtern wieder. Die Sterne über mir scheinen sich mit den Glühwürmchen um mich herum zu vereinen, und mir ist, als ob ich den Boden unter den Füßen verliere. Ich weiß nicht mehr, wo oben und wo unten ist. Schwerelos treibe ich in einem Meer aus Lichtern um mich herum. Anfangs noch ist mir schwindelig, doch nach kurzer Zeit lasse ich los und gebe mich den Empfindungen hin. Ich weiß nicht mehr, wo mein Körper aufhört und wo die Lichter anfangen. Alles funkelt und glitzert. Unmöglich zu beschreiben, wo ich mich befinde, verliere ich das Gefühl, Bedürfnisse zu haben. Alles ist genauso, wie es scheint und alles scheint genauso, wie es ist.
Es gibt kein Innen, kein Außen, kein Hinten kein Vorne. 

 

Ich bin Alles und Alles ist Ich. 

 

Allmählich verliere ich das warme Gefühl, das mein ganzes momentanes Sein bestimmt. Ich fühle, wie ich langsam schwerer werde. Die eintretende Kälte zeichnet nach und nach die Form meines Körpers.
Die Härte der Lehne an meinem Rücken drückt sich in mein Bewusstsein und manifestiert mich wieder in die Realität. Als ich meine Augen aufschlage, bin ich sprachlos. Was war das? Ich muss eingeschlafen sein, doch was war das für ein Traum? Ich fühle eine Ruhe in mir, die ich noch nie gefühlt habe, gleichzeitig bin ich zutiefst verwirrt. 

Als ich aufstehe, blicken die Sterne vertraut auf mich herab. Nachdenklich gehe ich ins Bad. 

 

Als ich das Licht anschalte und in den Spiegel schaue, fällt es mir wie Schuppen von den Augen. 

 

Ich sehe Licht!