Über das Erwachsen werden

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Du kommst auf die Welt. Alles ist neu für dich und du weißt mit dem meisten noch nichts anzufangen. Aber nichts schreckt dich zurück alles anzufassen, zu beobachten und zu begreifen. So wächst du heran und beginnst dich in deinem Umfeld selbst zu erkennen. Du erkennst schnell, dass es Verhalten gibt, das akzeptiert ist. Dagegen gibt es Verhalten, das verurteilt wird. Du lernst, immer wenn du weinst, verurteilt man dich dafür. Jede Träne wird als Schwäche gedeutet. Entweder erwartet man von dir nicht zu heulen oder man erwartet eben genau das. Irgendwann verstehst du nicht mehr, warum du eigentlich wirklich weinst. Es gab Momente, in denen du dich so gefreut hast, dass dir die Tränen kamen. Wie sollst du nun zukünftig über so etwas denken?

 

Die Erwachsenen sind komisch. Aber was willst du machen, es liegt nicht an dir zu entscheiden wie die Welt funktioniert. Eher bist du derjenige, der aufpassen und lernen muss. Doch auch die Erwachsenen waren mal Kinder. Sind es immer noch, obwohl sie sich einbilden, sie wüssten es besser. In einem Kindergarten, in dem Kinder, die auf andere Kinder aufpassen, zählt Alter aber nicht. Lediglich die Erfahrung ist ein verlässliches Mittel. Denn wir sind anders als die anderen. Wie können sie also Erfahrungen machen, die auf uns zutreffen? 

 

Schau sie dir an. Die Erwachsenen um dich herum. Verhalten sie sich nicht immer irgendwie kindisch? Selbst der analytische, pragmatische Familienpatriarch kann sich nicht dazu herablassen, seinen Sohn in den Arm zu nehmen und ihm mit feuchten, aber glücklichen Augen „Ich liebe dich“ zu gestehen, bevor er sein eigen Fleisch und Blut in die Ungewissheit des Schulwegs entlässt. Wie kindisch! 

Nein, Papa denkt, wenn er seinem Sohn die eigenen Gefühle gesteht, dann macht dieser das bei seinen Kindern  auch. Und das wäre widersinnig und entspräche nicht dem „Wir haben das schon immer so gemacht!“. Schließlich hat der eigene Vater auch keine Gefühle gezeigt. 

 

Aber Papa ist genau wie Mama, deren Herz so oft vor Sorge schmerzt, nicht erwachsener als wir. Klar, sie haben viel mehr Erfahrung als wir, aber wir sind anders. Wir leben in einer anderen Zeit. Die Herdplatte ist heute Induktion und wir verbrennen uns daran nicht mehr, wenn sie an ist. Was hilft also dieser Rat noch? 

 

Die Erwachsenen sind alle voll mit Ratschlägen aus Zeiten, die vergangen sind. Sicher, das soll nicht heißen, dass diese alle nichts mehr Wert sind. Genau wie bei unseren Genen waren alle Entwicklungen der letzten 200.000 Jahre notwendig, damit wir heute genau hier sind und jetzt diese Gedanken haben können. Wir bestehen aus den Genen unserer Eltern genau wie wir aus ihren Erfahrungen bestehen. Das heißt aber nicht, dass in einer stetig veränderten Welt alles in Stein gemeißelt ist. Warum auch? In einem Strom, der nur eine Fließrichtung hat, schwimmt es sich schlicht besser, wenn man keine Steine in den Taschen hat. 

 

Wir schreiben schon lange nicht mehr auf Stein. Es ist beschwerlich, unwiderruflich. Wir haben gelernt auf Papier zu schreiben. Nichts ist für die Ewigkeit. Und so schreiben wir heute auf Tablet, Smartphone und PC, denn diese stören beim Schwimmen nicht und einige sind sogar wasserdicht. 

 

Dennoch ist vieles von dem, was wir in Stein gemeißelt glauben, tief in uns verankert. Wir beobachten die Welt nun weniger. Vieles von dem was wir entdecken, verwirrt unser Regelwerk, und so richten wir unsere Aufmerksamkeit davon ab. Anfangs dachtest du noch du könntest alles schaffen. Aber Papa hat dich selten dazu ermutigt. Mama schon, aber sie macht sich oft Sorgen. Das schmerzt. Du bist ein emotionales Wesen und spürst ihre innere Angst. Wenn du siehst, wie sie weint, fühlst du mit ihr. Aber Papa weint nie. Wie also verhalten? Mitleid macht alles schlimmer und Mitfreude? Naja, das haben wir nicht gelernt. Noch nicht…

 

Je älter du wirst, desto matter werden die Farben deiner Welt. Zu viele Regeln lassen kaum noch Vielfalt zu. Allmählich verblasst alles um dich herum zu einem Schwarz-Weiß-Bild. Es gibt irgendwann nur noch „entweder oder“. Nur noch mit oder gegen den Strom. Kein Zurück nur Vorwärts. Kein rechts, kein links, nur noch geradeaus.

 

Delfine springen zum Spaß aus dem Wasser, denkst du dir, während du im Auto sitzst und im Berufsverkehr deiner 40 Stundenwoche entgegenfährst. Schule war schon anstrengend, aber arbeiten hat nichts mehr mit Spaß zu tun. Als du Papa das erzählst, meint er: „Naja, so ist das eben, das Leben
ist kein Zuckerschlecken.“ Mama nickt zustimmend. 

 

Warum nur ist Diabetes das erste, das dir dazu einfällt. Doch du weisst nicht, ob dieser Gedanke ein Zweifel oder eine Feststellung ist. Verwirrt blickst du in den Himmel, erwartest eine Antwort. Doch auch Gott hat dich verlassen. Vielmehr war er nie da. Du bist in dem Glauben aufgewachsen, dass die Wissenschaft Gott abgelöst hat. War es nicht Nietzsche, der sagte: „Gott ist tot?“.

Doch die Wissenschaft kann dir keinen Sinn geben. Gut, du weisst wie der Körper funktioniert. Schließlich gibt es für alles, was zwickt, eine Tablette mit Bedienungsanleitung. Aber das füllt die Leere in dir nicht. Diese droht aber an jedem weiteren acht Stunden Tag immer größer zu werden und dich zu verschlucken. Aber was willst du machen? Du brauchst Geld, schließlich muss die Miete bezahlt werden, die Kleider, das Auto, das Essen und die Katze. Und wie soll das erst werden, wenn Kinder auf dem Weg sind? 

 

Unfähig, das eigene Schicksal in die Hand zu nehmen und dennoch nicht davon befreit sein. Du kannst deinem Schicksal nicht entkommen, egal wie du es gestaltest. Jede Unfähigkeit spiegelt sich darin wieder, jedoch auch jede Fähigkeit. Es liegt an dir sie zu entdecken. 

 

Doch um sie zu entdecken, musst du mutig sein. Nur wer Mut zu Neuem hat, entdeckt auch Neues. Doch woher sollst du Mut nehmen? Dein Vater ist dafür nicht der richtige. Er macht einen Job auf den du noch weniger Lust hast als auf deinen eigenen, und deine Mutter, naja sie sagt, Live Your Dream, ist sich aber unsicher, ob du  jemals erwachsen wirst. 

 

Du fühlst diese Unsicherheit. Und so ist sie alles andere als ermutigend. 

 

Doch ohne Mut keine Sicherheit und ohne Sicherheit herrscht Zweifel. 

Der Zweifel an dir und dem was du bist. Der Zweifel daran, ob du jemals mehr sein wirst oder überhaupt irgendwas. 

 

Am Abend leuchtet dein Handy auf. Ein Match! So wie es scheint, wirst du heute nicht allein sein. Verzweifelt wie du mit dir selbst bist, stürzst du dich in Abhängigkeiten zu Menschen, die dir ein bisschen Sicherheit geben. Oder zumindest den Anschein erwecken. Du wirst oft enttäuscht werden.
Viel häufiger als es der Unsicherheit in dir gut tun würde. Sämtliche Trennungen von Menschen von denen du dachtest, sie bleiben dir auf ewig, sind keine Referenz für Sicherheit, wenn man sie als Niederlage interpretiert. 

 

Irgendwann triffst du jedoch auf den einen Menschen, der anders ist. Er spricht Gefühle in dir an, die du nicht kanntest. Sie sind nicht unbedingt das Beste, was du jemals gefühlt hast. Aber sie sind neu und machen dich meistens sehr glücklich. Oft aber auch extrem unglücklich. Wie dem auch sei, sie sind neu. Sie sind aufregend. Du gehst eine Verbindung ein, die länger halten soll. Dein Kind entspringt aus dieser Verbindung. Es ist alles, was du je zustande gebracht hast. Alle Leistungen der letzten Jahre sind nichts im Vergleich zu diesem einen Wunder. Doch wenn du ehrlich bist, hast du auch außerdem nicht viel zustande gebracht. Du arbeitest in einem Job, den du nicht magst und Selbstverwirklichung ist auch eher ein Ratschlag, den man sich an die Wand malt, um ihn dann doch jeden Tag zu ignorieren. 

 

Die Zeit, die du jeden Tag zur Verfügung hast, wird primär von deinem Kind eingenommen. Der Mensch an deiner Seite stürzt sich ebenso in Arbeit, um dich bestmöglich zu unterstützen. Ob zu Hause oder auf der Arbeit, jeder von euch hängt sich rein, um das Beste für das Beste in eurem Leben zu schaffen. Doch ein Job, der unglücklich macht, wird nicht unbedingt besser, wenn man sich noch mehr darin verliert. Und für den Partner ist das Wissen über diesen Zustand keine Erleichterung. Vielmehr gibt man sich nach und nach für den anderen auf, um sich gegenseitig bestmöglich zu unterstützen. 

 

Doch wer sich einmal aufgegeben hat, ist für das eigene Umfeld keine Bereicherung mehr. Der Stress macht dich allmählich träge. Auch dein Partner kümmert sich nicht mehr so fürsorglich um dich. Immer wenn du fragst, bekommst du die gleichen Antworten. „Nein Schatz, heute nicht. Ich bin zu müde.“ 

 

Das Leben wandelt sich stetig, und irgendwann findet ihr euch nebeneinanderher lebend. Das Neue, das Andere an deinem Partner ist längst verflogen und wurde durch die Alltäglichkeit ersetzt. Tag ein, Tag aus, alles scheint dir wie ein einziges Déjà-vu. Wieder bringst du dein Kind um 20 Uhr ins Bett. Wieder schaust du bis 22 Uhr fern. Wieder gehst du um 22.30 Uhr ins Bett. Wieder sagst du: „Gute Nacht“ zu deinem Partner worauf er antwortet: „Schlaf gut, mein Schatz.“

 

Bald schon wird der Nachwuchs größer. Dein Leben dreht sich nur noch um dein Kind. Alles misst du an diesem Maßstab. Deine eigenen Interessen stehen hinten an. Das mit der Verwirklichung des eigenen Selbst klingt mittlerweile wie eine Zigarettenwerbung, irgendwie unzeitgemäß. Wenn der Spross erst mal im Kindergarten ist, hast du auch wieder mehr Zeit für dich und wenn nicht da, dann spätestens wenn er in der Schule ist. 

 

Und plötzlich ist er da. Der Tag, an dem du dein eigen Fleisch und Blut zum ersten Mal gehen lassen wirst. Mit Stolz und glasigen Augen winkst du, während der kleine Kinderkörper hinter der Tür des Kindergartens zurückbleibt. „Wird alles gut gehen? War das die richtige Entscheidung? So jung und schutzlos, hättest du nicht doch da bleiben sollen?“ Fragen über Fragen, die dich alles andere als beruhigen. Deine Stirn legt sich in Falten und wird sich zukünftig an dieser Ausgangsposition orientieren. Du suchst Zuflucht bei deinem Partner. Doch du hast Angst davor, ihn unnötig zu beunruhigen. Schließlich haben andere Eltern auch Kinder und da klappt es doch auch. Vielleicht ist deine Sorge übertrieben. Du beschließt, dich zurück zu halten, denn du willst keine schlafenden Hunde wecken. 

 

Die Tage vergehen. Es passiert nun wieder mehr. Die ersten außerhäuslichen Erfahrungen deines Kindes halten dich auf Trab. Diese ganzen neuen Erlebnisse sorgen für Gesprächsstoff. Wer, wie, was, und vor allem warum, sind die Fragen, die den Alltag mit deinem Kind füllen. Zwischen dir und deinem Partner läuft es durchwachsen. Eigentlich gut, doch eigentlich auch nur noch nebeneinander. Außer arbeiten und Sorgen um die Zukunft machen, verbindet euch nur noch der gemeinsame Nachwuchs. Irgendwo sind auch noch andere Gefühle, aber die Unsicherheit darüber, was noch kommen mag, belegt alle Leidenschaft wie die Nebelschwaden zwischen verschneiten Berggipfeln. Du siehst den Berg, jedoch fehlt jedes spielerische Detail. 

 

Stück für Stück schleicht sich auch wieder die Routine ein. Die Tage beginnen sich wieder zu ähneln.
Du sehnst dich allmählich nach etwas Neuem, etwas Aufregendem. Wer war eigentlich die attraktive Bedienung im Café heute Mittag? Vielleicht gehst du morgen wieder hin, nur auf einen Kaffee und ein freundliches Hallo. 

 

Als du dein Kind abholst, wirkst du abwesend. Kinder sind emotionale Wesen. Gefühle verstecken gelingt hier relativ schlecht, vor allem, wenn die eigenen Augen einem entgegenblicken. „Warum bist du traurig?“, fragt dich dein Spross. „Aber ich bin doch nicht traurig,“ antwortest du. Das Strahlen in den Augen deines Kindes scheint daraufhin etwas weniger zu leuchten. Du entgegnest: „Manchmal ist das Leben kompliziert mein Schatz, aber mach dir keine Gedanken, mir geht es gut.“ Doch sein Kind zu belügen ist wie sich selbst zu belügen. Und so verunsicherst du nicht nur dich selbst, sondern auch das kleine Wesen neben dir, was gerade versucht die Welt zu begreifen. Als es beginnt zu weinen, sagst du: „Nicht doch mein Schatz, hör auf zu weinen, es ist alles gut.“ Allmählich versiegen die letzten Tränen. Je älter dein Nachwuchs wird, desto seltener wirst du sie wieder sehen. 

 

Als du abends aus dem Fenster in den klaren Sternenhimmel schaust, löst sich eine Träne aus deinen Augen. Plötzlich spürst du eine Hand auf deiner Schulter. Erschrocken drehst du dich um und blickst in die Augen deines Partners. Er wird dich nicht mehr fragen, ob alles in Ordnung ist, denn die Antwort, die du geben wirst, ist die gleiche wie sonst. 

 

„Es ist alles gut mein Schatz, mach dir keine Gedanken.“