Über den Menschen und seine Krone

Ich suche. Jedoch bin ich mir nicht im Klaren darüber, was. Ich blicke um mich. Vielleicht gibt es Anhaltspunkte, an denen ich mich orientieren kann, denke ich und suche weiter. Die Unruhe in mir treibt mich beständig voran. Unaufhörlich springt mein Blick von einer Perspektive zur nächsten, ohne sich wirklich entscheiden zu können, was ich von der ganzen Situation halten soll. 

Fast ein bisschen so wie wenn du ein Lied suchst, dessen Melodie du zwar kennst, aber dessen Namen du vergessen hast, und nun beim Durchschauen deiner Playlist hoffst, dass dein Unterbewusstsein irgendwie auf den einen Titel aufmerksam wird, den du jetzt unbedingt hören musst. 

 

Doch wie es scheint, ist mein Unterbewusstsein heute gegen mich. Ich erkenne nichts und nichts drängt sich in meine Aufmerksamkeit. Erschöpft halte ich vor einer gestrandeten Wurzel. Die Witterung und die Meeresströmungen haben ihre Spuren auf ihrem Weg zu diesem Strand hinterlassen. Das elfenbeinfarbene Holz fordert mich schimmernd auf, näher zu treten. Ich strecke meine Hand aus und berühre die von Sand und Wind fein geschliffene Oberfläche. Die Größe dieses Baumes muss  riesig gewesen sein. Woher sie wohl angespült wurde? 

 

Der Mangel an Alternativen macht mich neugierig, und ich beginne das Fundstück zu untersuchen. Aufmerksam beobachte ich die zahlreichen Verwurzelungen, die sich in den Sand graben. Fast so, als ob die Wurzel auch ohne den Baum an ihrer Existenz festklammert. Nach einer Weile klettere ich auf sie und setze mich. Im mittleren der Ringe finde ich meinen Platz. Wie viele Ringe wohl auf einen Durchmesser von über einem Meter passen? Ich versuche nicht zu zählen, das wäre ein unendliches Vorhaben bei meiner Verzählkunst. Mehr unfreiwillig als geplant finde ich Ruhe im Rauschen der Blätter und den sanften Wellen um mich herum. Nach und nach spüre ich wie der warme Wind meine Gedanken beruhigt. 

 

Ich schließe die Augen für einen Moment und atme ein. Ich spüre wie der Sauerstoff meine Verspannungen löst, das Salz und die Sonne ersetzen was alt ist, und frische Kokosnüsse mich satt machen. Die Luft ist täglich anders. Der Wind verändert die Zusammensetzung ihrer Bestandteile. Jeder Atemzug ist ein Erlebnis. Von unten kriecht allmählich die Wärme der von den Strahlen der Sonne aufgewärmten Wurzel in meine Beine. 

 

Back to the roots 

 

Mit der aufsteigenden Wärme öffne ich meine Augen.

"Vielleicht ist der Mensch doch die Krone der Schöpfung, nur weiß er nicht was seine Krone ist?",

murmle ich. Irritiert von meiner eigenen Stimme und vielmehr noch von dem, was sie sagt, runzle ich die Stirn. Ich beginne mich in Bewegung zu setzen, da sich in mir das Bedürfnis aufdrängt, aufzustehen. Die Ringe unter meinen Füßen drücken sich sanft in meine Haut. Die Wärme schafft ein Gefühl der Verbindung. Ich blicke in Richtung Horizont, spüre den Wald in meinem Rücken, und bin verwurzelt

 

Als ich meine Arme zum Himmel strecke und die Finger spreize, schließe ich die Augen. Das Bild eines Baumes erscheint. Seine Blätter wiegen sich sanft im Wind. Ich betrachte ihn. Irgendetwas ist anders und irritiert meine Erfahrung. Doch der Anblick, der sich mir zeigt, verdrängt diese Gedanken. Der Baum beginnt Blätter zu verlieren. Erst langsam fällt eines nach dem anderen, doch der Prozess beschleunigt sich. Ehe ich es verstehen kann, trägt er kein einziges Blatt mehr. 

 

Erst jetzt fällt mir auf, was mich anfangs irritiert hat. Der Baum steht nicht in einer Landschaft. Vielmehr schwebt er vor einem weißen Hintergrund und dort, wo die Kante zum Erdreich sein müsste, ist lediglich ein feiner Strich. Ich kann nicht verhindern, die nackte Krone in den Wurzeln des Baumes wiederzuerkennen. 

 

Plötzlich beginnt der Baum sich zu drehen. Irgendwann verliere ich das Gefühl für die Anzahl der Umdrehungen und gebe es auf mitzuzählen. Als er wieder zum Stehen kommt, ist der Strich verschwunden. Oben wie unten sehe ich nun verwurzelte Verästelungen, oder sind es verästelte Verwurzelungen? 

 

Als ich den Stamm betrachte, erkenne ich seine Transparenz. In ihm fließen Ströme aus aufwärts und abwärts stürzenden Molekülen, die sich lediglich durch ihre Farbe unterscheiden. Der Baum präsentiert sich mir auf seine intimsten Weise und ich muss zugeben, dass ich nicht mehr weiß, was seine Krone ist. 

 

Die Botschaft dahinter erscheint dafür umso klarer, als alles Unwichtige: 

 

Die Krone ist seine Wurzel.

 

Als ich die Augen wieder öffne, blicke ich nach unten. Erst jetzt erkenne ich die Metapher. 

Ich stehe auf einem Strandgut. Einer entwurzelten Wurzel. Auf einer Schnittfläche, auf der zu einem anderen Moment ein Baum thronte, verursacht durch eine Säge. 

 

Der Mensch wird erst anfangen sein Potenzial zu nutzen, wenn er aufhört seine Wurzeln abzusägen, flüstert es plötzlich in meinem Kopf. Wir greifen nach der Krone ohne zu erkennen, dass wir darauf stehen. Und wir merken nicht, wie wir uns damit den Boden unter den Füßen wegziehen. 

 

Jeder von uns will doch eigentlich das Beste aus seinem Leben machen. Doch wenn wir größer werden, verlassen wir uns immer mehr auf die Urteile und Ratschläge der Anderen. Alles, was sich in uns anfühlt, ist "nicht so schlimm" oder "zu übertrieben“, weil die Anderen das sagen. Doch die Anderen sind in der letzten Konsequenz wieder wir selbst, wenn wir bei Allem auf sie hören. So beginnen wir uns in Kreisen aus eigenartigen Empfehlungen zu drehen, um nicht aus der Masse heraus zu treten oder mit veraltetem Denken zu brechen. 

 

„Back to the roots meint nicht zurück zu den Ursprüngen. Vielmehr heißt es, du sollst deine Vergangenheit nicht aus den Augen verlieren, akzeptieren und endlich wachsen“, flüstere ich, während ich den Blick nicht von den zahlreichen Wurzeln lösen kann.

 

Die Vergangenheit abzusägen ist wie nach den Sternen zu greifen, ohne zu merken, dass man sich dabei an die eigene Kehle packt. Nur wenn du deine Wurzeln kennst und akzeptierst, anstatt sie zu verurteilen, kannst du sie als Fundament nutzen, denke ich weiter, während der Wind zustimmend an meiner Standposition scheitert.

 

Die Vergangenheit lässt sich nicht ändern. Jedoch lässt sie sich ebenso wenig absägen, ohne dass man dabei den Boden verliert. Wer bist du, wenn du nicht weißt, wo du herkommst? 

 

Betrachte deine Wurzeln aufmerksam und mit allem, was dazu gehört, säuselt eine Stimme in mir. Es gibt zu allem, was dich ängstigt oder verwirrt, eine zweite Perspektive. Also lege die Vorurteile der Anderen ab. Schätze deine Wurzeln dafür, dass sie dich bisher bei jedem Wind vor dem Zusammenbruch bewahrt haben. Denn schau dich an, du stehst immer noch. Letzten Endes wirst du so erkennen, dass jede Perspektive doch nur eine Seite der ein und derselben Medaille ist.

Erst jetzt kannst du den Blick von deinen Wurzeln abwenden und in dem Funkeln der Sterne deine Krone erkennen. Wovor hast du noch Angst, wenn dein Potenzial dann unendlich ist?

 

Ich bleibe noch eine Weile stehen, bis sich die Botschaft dieser innersten Stimme verankert hat. Das Gefühl unter meinen Füßen gibt mir Sicherheit. 

 

„Ich erkenne dich.“