Über Selbst-Misstrauen

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Ich stehe vor dem Spiegel und betrachte das Messer in meinem Rücken. Wie ein Fremdkörper ragt es unerwartet lang zwischen meinen Schulterblättern hervor. Langsam folge ich der metallischen Klinge bis zum Einstich. Ich beobachte wie mein Muskel pulsierend versucht gegen die Verletzung anzukämpfen und sich immer stärker verkrampft. In dicken, roten Tropfen quillt Blut hervor und rinnt zielstrebig in einem Wettrennen um den ersten Platz meinen Rücken hinab. 

 

Über die Jahre hatte ich mich an jenes Messer gewöhnt. Jenes Messer, das viele schicksalhafte Tage immer weiter in mein Fleisch bohrte. Eben diese Gewöhnung sorgte im Resultat dafür, dass ich es zuletzt ganz vergessen hatte. Seither versuche ich mich wie wahnsinnig darauf zu konzentrieren, welcher Verrat mir damals in den Rücken gefallen ist. 

 

Ich schließe die Augen und konzentriere mich auf den Schmerz. Ich fühle, wie die Klinge tief in meinem Körper steckt. Sie befindet sich ein kleines bisschen links neben meiner Wirbelsäule. Direkt hinter meinem Herzen und ich weiß, irgendwann wird sie es erreichen. Als ich tief einatme, spüre ich das Stechen in meiner Brust. 

 

Ich öffne die Augen und betrachte mich im Spiegel. Was war geschehen, was hatte die Klinge wieder in mein Bewusstsein gebracht? Stirnrunzelnd überlege ich. Meine Erinnerung ist getrübt, doch allmählich entstehen erste Bilder, die nur noch richtig interpretiert werden müssen. Diese Interpretation ist jedoch die Herausforderung. Ehrlichkeit und Demut ist hierbei entscheidend. 

 

Ich kann alles, nur wissen tu ich nichts. 

 

Doch die Botschaft hinter den Bildern bleibt mir verschlossen. Der Misserfolg verkrampft mich und plötzlich reißt mich das Messer wieder aus meinen Gedanken. Der Stich erstickt einen stummen Aufschrei. Verdammt. Ich stöhne gequält. Ich hatte schon oft versucht, das Messer zu befreien. Doch außer mir sieht es niemand. Und auch meine Beschreibungen, die ich davon versuche, sind meistens erfolglos. Nein, befreien kann höchstens ich selbst mich von diesem Gegenstand. Doch es befindet sich genau an dieser Stelle, wo meine Flexibilität aufhört. Zu verkrampft ist meine Brust, meine Schultern, meine Arme, mein Mut. Erschöpft lasse ich die Arme sinken und breche den Versuch ab, erneut danach zu greifen. Es will mir nicht gelingen, es zu erlangen. 

 

Plötzlich fällt meine Aufmerksamkeit auf ein Wort, das in der Dunstschicht des Spiegels erscheint. „Atme“. Es ist mit dem Finger geschrieben und war mir bisher nicht aufgefallen. Ich erschaudere bei dem Gedanken, allein in der Wohnung zu sein und nicht zu wissen, wer diesen Befehl hier angebracht hat. Doch die Atemlosigkeit der Situation überredet mich schnell, und ich inhaliere vorsichtig durch meine Kehle. Die Verletzung in meinem Rücken beginnt zu krampfen und kämpft gegen den in mir aufsteigenden Druck. Ich versuche ruhig zu bleiben und weiter einzuatmen. „Entspannung ein und Verspannung aus“, wiederhole ich die Worte in meinem Geist wie ein Mantra. Nach und nach fühle ich Entspannung und der Schmerz verändert sich. Allmählich wandelt sich das Stechen zu einem dumpferen, weniger grellen Gefühl.

 

Das plötzliche Abflauen bringt mich zum Kichern. Ein Kichern, wie als ob man sich den Ellenbogen stößt. Unangenehm ja, aber irgendwie befreiend. 

 

„Entspannung ein und Verspannung aus“, murmle ich weiterhin in meinem Geiste. Mein Gesicht wirkt im Spiegel wie eine Fratze. Die eine Seite lacht, die andere weint. Gemischte Gefühle eben. Mich irritiert der Anblick und lenkt zu sehr vom Atmen ab. Als ich die Augen schließe, finde ich mich plötzlich in eine Erinnerung katapultiert. Ich beobachte die Szene aus einer dritten-Person-Perspektive von rechts oben. Ich sehe einen Jungen mit langen Haaren, der an einem Pool steht. Er steht mit dem Rücken zum Wasser und ich kann sein Gesicht erkennen. Er lacht und geht in die Knie. Kurz bevor er abspringt, schaut er in meine Richtung und sein Blick trifft meinen. Unerwartet erstirbt sein Lächeln, doch es ist zu spät, der Sprungprozess ist schon zu weit fortgeschritten. Und da erkenne ich sie, die Angst in den Augen des Jungen. Es ist das letzte, was ich sehe. 

 

Der versuchte Rückwärtssalto scheitert mit dem Hinterkopf an einer Ecke der Natursteine, in die der Pool eingebettet ist. Ich zucke zusammen, als ich den Aufprall spüre. Der Junge bleibt eine Zeit lang unter Wasser und es passiert überhaupt nichts. Die Wellen der Wasseroberfläche gleichen sich allmählich wieder an und beruhigen das unruhige Wasser. Die Zeit will nicht vergehen und mir erscheint die Ewigkeit viel zu lang. Ein Gefühl von Panik steigt in mir auf. Auf einem EEG spiegelt sich dieses Gefühl in den Gamma Gehirnwellen.

Doch dann sehe ich, wie der Kopf des Jungen die Wasserkante bricht und auftaucht. Blitzartig greift er sich an den Hinterkopf und tastet nach dem entstandenen  Schaden. Erleichtert stellen wir im selben Moment fest, dass sein Zopf wohl das Schlimmste abgefangen hat und wie durch ein Wunder nichts zurück bleibt, als eine überschaubare Beule. 

 

Gerade als ich anfange mich zu entspannen, spüre ich, wie ich rückwärts aus der Szene gerissen und in eine andere hineingeschleudert werde. Es ist wieder der Junge. Diesmal sehe ich ihn von hinten. Seine Haare sind kurz. Er steht auf einer Terrasse und blickt zu den Sternen. Langsam beginne ich ihn zu umkreisen, immer vom rechten oberen Bildrand aus. Als ich sein Gesicht sehe, erkenne ich Tränen in seinen Augen. In seinem glasigem Blick sehe ich Misstrauen, Verrat und Angst. Ich spüre, wie es mich bei diesem Anblick fröstelt und gleichzeitig rinnt eine Träne meine Wange herab. Als ich fast ganz um ihn herum geschwebt bin, erkenne ich, wie er mit seiner linken Faust einen Zopf aus geflochtenem Haar verkrampft festkrallt. Seinen Zopf, sein Haar. 

 

Als ich hinter ihm zum Stillstand komme, sehe ich, wie er plötzlich mit der rechten Hand nach etwas greift. Aggressiv tastet er nach einem glänzenden Gegenstand, in dem sich das Licht des Mondes blitzend spiegelt. Ein Messer. Mit lautem Schrei rammt sich der Junge das Messer selbst in den Rücken und verliert dabei vor Schmerz den Zopf aus der anderen Hand. Der Schrei ist so schmerzhaft, dass sich unmittelbar die Klinge in meinem Fleisch in mein Bewusstsein drängt. Noch bevor ich erkennen kann, wie der Junge erschöpft zu Boden stürzt, öffne ich die Augen und brülle so laut ich kann. Ich koche vor Wut und Schmerz, reiße meinen rechten Arm nach hinten und taste unkontrolliert nach dem Griff des Messers. Doch mein Suchen verfehlt sein Ziel, und der Ohnmacht nahe gebe ich endlich auf. 

 

Was war das? Ein Hoffnungsschimmer blitzt in mir auf und gibt mir neue Energie. Habe ich den Griff nicht beinahe berührt? Vorsichtig taste ich erneut danach, doch diesmal ruhiger, kontrollierter, weicher. Als die Spitze meines Zeigefingers das kalte Metall erfühlt, beginne ich zu schmunzeln. 

So dicht dran war ich noch nie.

 

Als ich den Spiegel aus dem Augenwinkel erkenne, halte ich irritiert inne. Ich drehe den Kopf und blicke in meine Augen. Allmählich beschleicht mich ein seltsames Gefühl. Die Augen sind meine, doch was mir aus dem Spiegel entgegenstarrt, ist das Gesicht des kleinen Jungen. Mein Gesicht, nur mit der Hälfte meiner Jahre.

 

„Warum hast du mich verraten?“, fragt er mich plötzlich. 

 

Ich stutze. Unnötig zu hinterfragen, warum mein Spiegel redet. Vielmehr ist es wichtig, den Vorwurf zu entschärfen, den mir dieses kindliche Gemüt unterstellt. 

 

„Was meinst du mit verraten?“, erwidere ich vorsichtig. 

 

Aus seinen feuchten Augen funkelt mir Wut entgegen. „Warum hast du zugelassen, dass sie mir die Haare abschneiden? Warum hast du zugelassen, dass sie dich verändern? Warum hast du nicht verhindert, dass ich mich verliere?“

 

Viele Fragen, gefolgt von einigen Tränen. Tränen der Trauer haben eine andere hormonelle Zusammensetzung als Tränen der Freude, doch was sind dies für Tränen? 

 

„Ich habe versucht dich zu beschützen“, sage ich ohne genau zu wissen, was ich damit meine. 

 

Harsch schüttelt er den Kopf. „Wie soll mich das beschützen? Schau dich an, wer bist du? Durch dein Beschützen habe ich verloren, wer ich bin, was ich bin. Du hast alles versaut. Du bist dafür verantwortlich, dass es nun so ist, wie es ist!

Wir sind geklettert wie Tarzan, haben gekämpft wie Winnetou und gelebt wie Indianer, und jetzt? Was ist aus dir geworden?"

 

Ich schweige, unfähig, irgendwas auf diesen Vorwurf zu erwidern. Die Faszination in dieser Situation überwältigt mich und verhindert auch nur irgendeinen Gedanken.

 

„Ich wollte dich wirklich beschützen. Doch ich verstehe auch deine Wut“, erhebe ich irgendwann behutsam die Stimme. "Erinnere dich daran, warum ich entschieden hatte, dich zu beschützen. Manchmal zwingt einen das Umfeld zu Veränderung. Manchmal sind die äußeren Umstände so mächtig, dass man sich verändern muss. Ich musste dich beschützen, wir mussten zerbrechen, um uns neu aufzubauen. Erinnere dich daran, wie du kämpfen musstet. Wir dachten immer ein Indianer kennt keinen Schmerz, aber wer würde behaupten, Winnetou habe keinen Schmerz empfunden, als Nscho-tschi sterbend in seinen Armen lag? Doch ein Indianer bleibt nicht beim Schmerz hängen, daher kennt er ihn nicht. Vielmehr versteht er ihn als Prozess der Heilung und nicht als Gegenstand.“

 

„Aber das ändert nichts daran, dass ich mich verloren habe“, entgegnet er mir wieder, jedoch diesmal etwas weniger wütend. 

 

„Ja, du hast dich verloren, ich habe dich verloren. Für einen Moment der Zeit warst du nicht mehr im Diesseits und das ist etwas, das du mir nicht vergeben musst. Doch schau mich an, erkennst du dich nicht wieder? Habe ich dich nicht wieder gefunden?“ 

 

Wir schweigen beide eine Weile. Ich beobachte, wie langsam die zwei roten Druckstellen auf seiner Stirn verschwinden, die Oma immer Wuthörner nannte, weil sie nur kamen, wenn er wirklich zornig war. 

 

Irgendwann blickt er mich an und beginnt zu schluchzen. „Ich kann das nicht verstehen“, flüstert es aus ihm heraus. 

 

„Das ist okay“, antworte ich ihm tröstend. „Das musst du auch nicht, denn ich werde dir alles zeigen! Ich habe dich jetzt wieder. Ich kann niemals entschuldigen, was passiert ist, was ich dir angetan habe, auch wenn mein Herz davon blutet. Auch wenn es mir unendlich leid tut, was du ertragen musstest. Aber schau, du hast mich wieder, ich bin zurück, ich bin bei dir. Ich liebe dich.“ 

 

Ich beginne zu lächeln, und spüre, wie meine Augen feucht werden. Ich blinzle, fühle wie mein Rücken sich entkrampft. Vorsichtig greife ich nach hinten, um nach dem Messer zu tasten und spüre, dass ich nun schon fast den Griff umfassen kann. Das Stechen wird milder. Ich bin auf dem richtigen Weg. 

 

„Ich liebe dich auch."