Über Geschwisterliebe

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Blau. Helles, strahlendes blau. Ich blicke in ihre Augen und spüre wie ich mich konzentriere. Fühle wie meine Gedanken klar werden und mich fesseln. Es heißt, in den Augen spiegelt sich die Seele. Wahrlich, nur darf man hierbei nicht vergessen, dass Spiegelbilder immer genau spiegelverkehrt sind. Interessant gerade dann, wenn man bemerkt, dass man sich selbst auf der Netzhaut des Gegenübers gespiegelt wiederfindet.  

 

Wir sitzen uns schon seit einiger Zeit stumm gegenüber. Betrachten die Augen des anderen. Spiegelneuronen erledigen den Rest und gleichen unmerklich die Körpersprache an. Für einen Moment der Zeit hört das Ego auf zu reden und lässt alle Bedürfnisse verstummen. Ich sehe einen Stern und sie lächelt mich an. Reines Empfinden erfüllt mich. 

 

Es hat eine Weile gedauert. Ein knappes Dutzend Jahre an der Zahl, doch was sind schon Zahlen, außer unendliche Wege in nur eine Richtung. Am Ende kommt man doch immer wieder bei null raus. Oder eben am Anfang, je nach dem welche Perspektive man einnimmt. Die Wahrheit ist, wir hatten uns verloren. Zwei Menschen, die sich seit den ersten Kontakten zur Außenwelt kannten und dann getrennte Wege gingen. Aber im Leben begegnet man sich immer zweimal und erhält in der Zwischenzeit die Fähigkeit sich selbst zu finden. Beim Wiedersehen ist man nicht mehr derselbe und dennoch begegnet man sich nicht zum ersten Mal. 

 

Ich blicke in die Augen meiner Schwester. Das Spiegelbild von mir, aus einer Zeit an die ich mich nicht mehr erinnern kann. Doch in ihren Augen lässt sich erkennen, was vergessen schien. Man muss nur genau hinschauen. Wir haben über alte Zeiten geredet, begannen nur wenig später nach ihrem Eintreffen damit. Nostalgische Gefühle. Empfindungen von Situationen, an die man schon sehr lange nicht mehr gedacht hat. Kindertage. Glückliche Tage, in denen alles noch einfach und leicht war. 

 

Mit der Zeit verstummen wir allmählich. Irgendwann hat man ein Gespür dafür, wann es Zeit ist zu schweigen. Die Pausen sind entscheidend, sie geben dem Gesagten erst die wirkliche Bedeutung. 

Wir kennen uns aus einer Epoche unseres Lebens, in der wir Vertrauen und Verrat noch nicht kannten. Wo Trauer und Freude Geschwister waren und das Eine nicht ohne das Andere existierte. Eine Zeit, in der es die Angst vor Verrat noch nicht gab und so Vertrauen überflüssig machte. Als Kind geht der Mensch immer davon aus, dass die Welt ihm nichts Böses will und dann wird es ihm beigebracht. 

Als sich unsere Augen treffen, werde ich hineingezogen. 

 

Misstrauen ist eine schwierige Sache. Denn es existiert nur, weil es auch Vertrauen gibt. Im Verrat lernt der Mensch das Spiegelbild kennen und nennt es Vertrauen. Doch das ändert nichts daran, dass man von nun an immer erst misstrauisch ist. Verständlich, schließlich will man nicht ständig auf die gleiche Herdplatte langen. Dennoch verschließt uns das in der Angst etwas von uns preiszugeben. Doch wer nichts von sich erzählt, findet keinen Gesprächspartner und bleibt so unbekannt. Sogar vor sich selbst. 

 

Als sich unsere Wege trennten, trennte sich auch Freude von Trauer, Trauen von Misstrauen. Immer dazu bestimmt vorzuherrschen und sich nicht mehr ausgleichen zu können. Jedoch  funktioniert nur so der Prozess der Selbsterkenntnis.  Erst das Hineinsteigern in eine Sache macht einen zum Experten. Die Herausforderung dabei ist es wieder zusammen zu finden und sich zu ergänzen. Endlich. 

 

Wer weiß, vielleicht war es Zufall, oder einfach Glück. Vielleicht auch Schicksal, aber wie dem auch sei, es ist wie es nun ist. Draußen beginnt es bereits, dunkel zu werden und der Mond ist bereit, sich in der Sonne zu baden. Der Himmel wandelt sich in ein tiefes dunkelblau, während die Sonne ihre letzten purpurlilanen Farben tanzen lässt. Die Dunkelheit verschluckt uns allmählich, wobei sie die Kontraste verwischt. Bald schon würden wir nichts mehr sehen. Doch mit dem Sinken der Sonne, erheben sich ebenso die Sterne. 

Plötzlich erkenne ich eine Veränderung in ihren Augen. Je mehr ich mich darauf konzentriere, desto heller scheinen sie zu werden. 

 

Der Weg zum Vertrauen geht nur über den Verrat. Erst im einen, kristallisiert sich das andere. Jedoch gelangt man erst dort an, wenn man die Angst freigibt und loslässt. Genau wie die Angst vor der Enttäuschung die Täuschung aufrecht hält, so hält auch die Angst vor dem Vertrauen den Verrat aufrecht. Es ist wie beim Laufen lernen. Wer sich nur auf das Hinfallen konzentriert, bleibt irgendwann liegen. Zu mühselig erscheint das erneute Stolpern. Doch das Hinfallen ist Teil des Laufprozesses, gehört dazu und kann trainiert werden. Wer sich abrollt, kann den Schwung nutzen um wieder auf die Beine zu kommen, und so voran. Am Ende kommen wir immer beim Anfang raus. Doch es ist die eigene Perspektive, die entscheidet, ob es das Ende oder der Anfang ist, den wir vorfinden. 

 

In ihren Augen sehe ich das Licht von Sternenstaub funkeln. Ich blicke in zwei leuchtende Universen, die jeweils um ein schwarzes Loch kreisen. Zwischen uns liegt viel Zeit. Doch allmählich beginnt sie sich zu lösen. Das Blau ihrer Augen zieht mich zu sich, vermischt sich mit dem grün-braun meiner Augen und wird eins. Eine Perspektive der Welt, einst getrennt, findet nun wieder zusammen. 

 

Am Ende vereinen sich Vertrauen und Misstrauen in der Liebe. Doch nur die bedingungslose Liebe ist auch vertrauenslos. Die Frage des Vertrauens stellt sich in ihr genauso wenig, wie die Frage des Verrats. Bedingungslos heißt ohne Bedingung. Wer vertraut, der liebt. Wer liebt, der vertraut. 

 

Das Heranwachsen besteht darin sich zu entwickeln, auch wenn das bedeutet aus dem gemütlichen Kokon auszubrechen. Doch wie bei einem Schmetterling, muss auch der Mensch seine ganze Kraft einsetzen, um sich zu befreien. Wer hier schummelt oder sich zu viel helfen lässt, wird nie richtig fliegen können. Wir wachsen an unseren Herausforderungen: willst du fliegen, musst du erst krabbeln und dann ab-springen. Willst du Vertrauen, musst du erst misstrauen und dann los-lassen. Willst du lieben, dann tu es!

 

Der endlose Moment endet irgendwann im gleichzeitigen Erwachen. Ich blinzle, sie auch. Ich beuge mich zu ihr und umschließe sie mit meinen Armen. Spüre, wie ihr Herz an meiner rechten Brust schlägt. Ich schließe die Augen. Spüre ihre Atmung in meinem Nacken und passe mich dem Rhythmus an. Zwei Körper, zwei Herzen. Ein Bewusstsein. Plötzlich kämpfen sich Tränen an die Oberfläche und heilen verspielt die Wunden der Zeit. 

 

Der Weg zu sich selbst funktioniert nur über das Andere. Erst im Spiegelbild erkennen wir uns. Wer Angst hat hineinzusehen, erkennt darin jedoch immer das Spiegelverkehrte und misstraut dem, was er glaubt zu sehen. Staunende Augen dagegen geben den Blick frei und verwischen das Du und Ich zum Sein. 

 

„Wir sind eins“, flüstere ich.