Über Liebe und Freundschaft im außermoralischen Sinn

 

Wir können Freunde bleiben“, war das letzte, was sie zu ihm sagte. Dann hatten sie sich umarmt, er geweint und sie sich vor ihm geekelt. Schon beim Aussprechen dieses Satzes war ihr klar, dass er sich wie eine Floskel anhören würde. Nicht dass sie es darauf angelegt hatte, ihn zu verletzten. Doch Trennungen sind bekanntlich nie zeitgerecht. Ganz egal wann, sie kommt immer dann, wenn es am schlimmsten ist. 

Sie sah in seine Augen, erkannte den erwarteten Schmerz darin und fühlte sich schlecht. Als sie am Vortag das gemeinsame Gespräch mit den Worten „Wir müssen reden“ begonnen hatte, war auch ihm klar geworden, dass es zu Ende gehen würde. Er hatte nichts gesagt. Stumm in sich hinein genickt. Zumindest vermutete sie das, da sie die andere Seite des Telefonates nicht sehen konnte. Doch sie fühlte ihn. Erinnerte sich daran, wann sie zum ersten mal diese Worte gehört hatte, und spürte das Stechen im Herz. Doch sie musste hart bleiben. Alle Überlegungen führten letztlich immer zum selben Ziel und sie hatte keine Kraft mehr, sich weiter im Kreis zu drehen. 

Die Jahre waren vergangen und sie hatten sich verändert. Es war nicht seine Schuld, dass sich alles so entwickelte. Vielmehr war es das Leben und die Tatsche, dass sie sich darin nicht zurecht fand. Vieles verunsicherte sie, brachte sie aus dem Gleichgewicht und er bot keinen Halt. Er selbst war gefangen in seinen Stimmungen. Tag ein Tag aus, stetige Veränderung wobei sich das zugrundeliegende Fundament aus negativen Energien erhielt. Eines seiner Augen weinte beständig, selbst wenn es keine Tränen trug. Das andere, wechselhaft wie das Wetter, konnte gelegentlich Ausgleich schaffen, doch zu oft taumelte es zwischen Sonne und Regen und wollte sich nicht entscheiden.  

 

Zu instabil für sie. Diese Unsicherheit irritierte sie. Machte ihr Angst und irgendwann ekelte sie sich davor. Das war jener Moment, in welchem sie das Ende vor sich sah. Seither waren die Minuten zu Stunden und Stunden zu Tagen geworden. Jedes Telefonat kostete unendlich viel ihrer Lebenszeit. Jedes Treffen, belegt von einem schweren Schatten aus dunklen Gefühlen. Er konnte diese Veränderung spüren. Sie sah es in seinem Blick. Die schönen Momente vergingen, wie das Strahlen in das sie sich einst verliebt hatte. Es wich einer grauen Maske, die sie bei jedem Wiedersehen wieder an den Alltag erinnerte. 

 

Sie hatte sich viel zu lange den Kopf zerbrochen. Hilfesuchend auf Alternativen gehofft, doch nur noch mehr Steine in ihrem Weg gefunden. Wie lange kann man schwimmen, wenn das Schiff schon unter gegangen ist und die Beine schwer werden? Sie wusste, dass sie es war, die das Problem hatte. Doch er, nun ja, er war diesem Problem genauso wenig gewachsen wie sie selbst und sie wollte nicht mit ihm untergehen. Manchmal, wenn sie allein war, überfiel sie eine Traurigkeit. Dann weinte sie. Versuchte zu verstehen, was passiert war. Wieso sich alles so entwickelt hatte und nicht so, wie sie es sich eigentlich vorstellte. Sie waren glücklich. Die Welt schien endlich einen Sinn zu ergeben. Endlich einen Grund zu haben, morgens aufzustehen und das Leben zu genießen. Irgendwann trat jedoch der Alltag wieder aus dem Schatten der Verliebtheit. Dinge, wie die Arbeit. Der Stress der Existenz in einem System, das nur immer Mehr kennt anstelle eines Genug’s. Und sie, die ein Teil dieses Systems war, wie jeder andere um sie herum auch.

 

Doch alles Kopfzerbrechen änderte nichts am Resultat. Sorgte in letzter Konsequenz nur für noch mehr Kopfschmerzen. Sie spürte, wie ihr Herz zu stechen begann und ihr bewusst machte, dass sie das nicht aushalten würde. Das Ergebnis war Gleichgültigkeit. Kalte Gleichgültigkeit, die sie wie ein Geruch überall mit hin begleitete und ihr irgendwann in die Nase kroch, je länger sie in einer Situation gefangen war. Das Atmen mit diesem stetigen Begleiter fiel schwer. Stahl ihr Kraft und Energie beim Luft holen und brachte sie irgendwann dazu, die Nase zu rümpfen. Wenn das geschah, wurde aus Gleichgültigkeit genervt sein. Und letztlich wieder Ekel. 

 

Die Versuche, dies vor ihm zu verheimlichen, misslungen. Er spürte ihre Abneigung vom ersten Moment an. Kämpfte dagegen an, indem er traurig und anhänglich wurde, damit aber den Prozess nur noch beschleunigte. Bis zum jenem Tag, an dem sie beschloss, dass es nun genug war. Sie konnte nicht mehr. Sah kein Ende und das einzige Licht am Ende des Tunnels war das Ende selbst. Die gemeinsame Zukunft war eine getrennte. Panik und Schuldgefühle buhlten zusammen mit Vorfreude und Angst um ihre Aufmerksamkeit. Als sie mit ihm telefonierte um das letzte Treffen als Paar zu vereinbaren, hatte sie gezittert. Sie sprach laut und kalt, jedoch nur um sich selbst Mut zu machen. Eigentlich wollte sie weinen. Schon während sie mit ihm telefonierte. Wollte sagen, dass sie das nicht wollte. Am liebsten hätte sie ihn gefragt, ob sie es weiter versuchen sollte und er sie darin ermutigen würde. Wie ein guter Freund an ihrer Seite stand, um ihr bei dieser Entscheidung den Rücken zu decken. Doch sie war im Begriff, ihm in den seinen zu fallen. Unmöglich, ihn dabei um Hilfe zu bitten. 

 

In dem Moment, in dem sie auf die gläserne Oberfläche ihres Handy tippte um aufzulegen, tropfte eine Träne auf das Display. In der Spiegelung erkannte sie ihr Gesicht und zwang sie so zum Ausbruch. Warum war alles nur so kompliziert. Die Tränen brachen aus ihr heraus, während sie sich schluchzend auf ihrem Bett zusammen kauerte. Letztlich versuchte sie es nicht mehr zu unterdrücken, gab zuckend nach und krampfte zusammen, wenn eine weitere Welle sie überfiel. 

 

Sie hatten sich zum Mittag verabredet. Waren aus unterschiedlichen Richtungen aufeinander zugegangen, während sie sich auf andere Weise betrachteten. Die Schritte verringerten den Abstand, doch schien er nicht aufzuhören. Die Perspektive, der sie sich ausgesetzt sah, wühlte Gefühle in ihr auf. Von außen wirkte sie kühl und konzentriert. Im Innern jedoch verloren sich Herz und Kopf im Getümmel der Schlacht. Sie zählte die Schritte. Spürte, wie Panik sie nervös machte, Liebe sie wärmte und Angst sie erkalten ließ. Sie fühlte, wie ihr Rücken hart wurde, der Nacken und die Schultern brannten, um sich letztlich in einem Zittern der Hände zu entladen. Kalter Schweiß kühlte ihre Handflächen ab und sorgte für Gänsehaut, während ihr Kopf zu verglühen drohte. 

 

Kurz bevor sie sich trafen, blieben sie stehen. Betrachteten einander. Musterten den anderen um zu erahnen, was passieren würde. Ihr Herz hämmerte gegen die Hitze ihres Kopfes an, brachte das Blut in ihren Ohren zum Rauschen, während sie die Kontrolle abgab. Plötzlich wurde sie ruhig. Ein letzter Atemzug trug alle Wärme aus ihrem Körper. Es war soweit. Die einzige Chance zu überleben. Loslassen. 

 

„Ich weiß nicht, wie ich anfangen soll“, begann sie zu sprechen. „Ich habe lange überlegt. Doch ich konnte mich nicht entscheiden. Ich liebte dich. Doch ich habe mich verändert. Du dich auch. Wir haben uns zu einer Zeit kennengelernt, in der wir füreinander bestimmt waren. Heute sind wir älter. Anders. Wir haben viel erlebt und uns weiter entwickelt. Seit einiger Zeit merke ich immer stärker, dass ich dich unglücklich mache. Ich sehe, wie du deine Freude verlierst und ich weiß, dass dies an mir liegt. Mein Leben hat sich in der Vergangenheit verändert und mich mitgerissen. Der Alltag fordert meine ganze Aufmerksamkeit und auch wenn ich es mir gewünscht habe, ist hierin kein Raum mehr für uns. Ich bin müde. Suche nach Halt und Energie und verliere sie jedoch, wenn wir zusammen sind. Ich finde meine Gefühle für dich nicht mehr. Sie haben mich verlassen und ich spüre wie ich dich damit verletze. Es tut mir leid, doch mein Herz kann das nicht mehr er-tragen.“

 

Sie fühlte sich wie eine Maschine. Eine Computerstimme, die einen einstudierten Text wiedergab und schlicht funktionierte. Sie hatte ihm dabei nicht in die Augen schauen können. Zu groß war die Angst vor dem angerichtete Schaden. Doch nun, nachdem sie gesagt hatte, was ihr auf dem Herzen lag, wollte sie seine Reaktion sehen. Er hatte sie nicht unterbrochen. Sich nicht bewegt. Ausgeharrt wie ein Soldat bei strömendem Regen. In seinen Augen sammelte sich Flüssigkeit. Tränen begannen zaghaft an seiner Wange herab zu rollen und sich in seinem Bart zu verwirren. Doch seine Mimik blieb gleich. Er rührte sich nicht, antwortete nicht. Betrachtete sie stumm. 

 

Die ausbleibende Reaktion machte sie nervös. „Wir können Freunde bleiben“, versuchte sie das Schweigen zu brechen. 

 

Plötzlich umarmte er sie. Hielt sie fest. Atmete tief und löste sich von ihr. 

 

Sie wurde wütend, gleichzeitig war sie nicht sicher ob sie das richtige getan hatte. Fühlte sich leer. Gerade als sie sich umdrehen wollte um zu gehen, begann er zu sprechen: 

 

„Du sagst, es gab eine Zeit, in der du mich geliebt hast. Eine Zeit, in der wir füreinander bestimmt waren. Und doch fühle ich, wie du mich gerade jetzt am meisten brauchst. Du sagst wir seien älter geworden, hätten viel erlebt und uns verschieden entwickelt. Du sagst, du würdest bemerken, wie du mich unglücklich machst und ich meine Freude verliere. Und doch sehe ich, wie du dich immer stärker in die Gleichgültigkeit verwickelst und dabei deine eigene Freude verlierst. Du sagst, dein Alltag habe dich mitgerissen und dass er deine ganze Aufmerksamkeit fordere. Dass du keinen Raum für uns siehst, auch wenn du es dir wünschtest. Und doch hast du heute Zeit gefunden, um dich mit mir zu verabreden. Du sagst, du seist müde, suchst nach Halt und Energie, aber verlierst diese wenn wir zusammen sind. Dabei sehe ich, wie viel Kraft du aufbringst nur um mir das zu sagen. Du sagst, du findest deine Gefühle für mich nicht mehr und dass du sie verloren hast. Jedoch fühle ich, wie du zitterst, dein Blut in deinen Adern pocht und dein Herz von Vernunft, guten Gründen und Logik überwältigt und gefangen wurde.“

 

Er hielt inne. Ließ in der Pause die Wirkung seiner Worte zur Geltung kommen. 

 

„Es bist nicht du, die zur mir spricht“, fuhr er fort. „Es bist du, die zu sich selbst spricht. Ich spüre, wie du dich verlierst, spüre deinen Schmerz und er stimmt mich traurig. Ich sehe die Widersprüche in deinem Verhalten. Sehe, wie du dich selbst immer weiter vergisst und dich in Gleichgültigkeit vor deinen Gefühlen versteckst. Höre, wie du dir einredest, hart zu werden um nicht zu zerbrechen. Es bin nicht ich, der seine Freude verliert. Aber ich bin es, der dein Verhalten in sich aufnimmt. Siehst du mich weinen, dann nur weil du weinst und es nicht siehst. Siehst du mich traurig, bist du es, die traurig ist, aber zu hart bleibt, um es sich nicht einzugestehen. Hörst du mich klagen, so hörst du dich, wie du aus mir sprichst. Du sagst wir können Freunde bleiben, doch ist es gerade das, was ich jemals wollte. Ich liebe dich. Und ich werde es immer tun. Jedoch nicht, weil es mir angenehm ist, sondern weil es manchmal unangenehm ist und Liebe keine Bedingungen kennt. Der Grund, warum ich bin wie ich bin, bist du. Ich sehe, wer du wirklich bist während du es dir ausredest. Wo du in mir das Schwache siehst, erkennst du deine eigene Schwäche, deine Gefühle zuzulassen. Doch hier stehe ich und sage dir, ich kenne dich und ich kenne dein Herz. Nichts, was du sagst, wird ändern, wer du bist. Nur deine Taten sprechen für sich. Was du tust, ist jedoch nicht das, was du willst, weil du nicht sagst, was du fühlst, sondern nur was du denkst. Aber ich sehe hinter diese Maske, deren Schatten du nicht mehr erkennst. Ich weiß, was du fühlst, spüre, wie du denkst.“

 

Er betrachte sie lange. Zuerst war sie wütend geworden. Woher besaß er die Frechheit ihr so ins Gewissen zu reden? Doch dann hatte er aufgehört zu reden. Ihr stumm und eindringlich in die Augen geblickt. Eingeatmet. Ausgeatmet. Und irgendwann verließ sie die Wut genau wie der verbrauchte Sauerstoff, als sie in seinen Atemrhythmus einstieg. 

 

Die Zeit schien im Stehen begriffen. Die Geräusche um sie verhallten. Die Welt hörte auf sich zu drehen. Alles verlor sich in Bedeutungslosigkeit. Alles bis auf die Augen des anderen. 

 

Schau in dein Herz“, flüsterte er vorsichtig. „Nicht in das Herz der anderen, nicht in meins, nicht in das des Alltags. Betrachte nur deines. Was sagt es dir? Für was schlägt es? Trägt es Liebe in sich oder sucht es? Hat es Liebe zu geben oder verlangt es?“ 

 

Sie wollte etwas antworten, nicht dumm da stehen und sich blöd vorkommen, doch hatte sie sich bereits zu sehr in sich verloren. Spürte wie sie zum Spielball ihrer Gefühle wurde und das Gleichgewicht verlor. 

 

Noch bevor sie in sich zusammenfiel, fing er sie auf. Schloss seine Arme um ihren Körper und presste sein Herz gegen ihre Brust…

 

Resumee

Liebe ist bedingungslos. Sie ist das Ergebnis, wenn Herz und Kopf einer Meinung sind. Liebe ist weder intuitiv noch berechnend. Noch ist sie spirituell oder funktionell. Nein, sie ist viel mehr als das. Liebe ist die Wechselwirkung zwischen deinem Herzen und deinem Kopf, und damit das Ergebnis von Intuition und Verstand. Die Verbindung zwischen Spiritualität und Pragmatik. Das warme Gefühl in deinem Innern, das bis über die Grenzen deines Körpers strahlt und alles um dich herum mit Glück ansteckt. 

 

Unglückliche Liebe dagegen ist nicht bedingungslos. Voller Selbstzweifel und Misstrauen be-dingen wir den anderen mit unseren Abhängigkeiten, unserem Glück. Sobald sich die Bedingungen jedoch ändern, kommt die Angst. Die Angst davor, wieder allein zu sein. Entweder, weil wir uns für nicht liebenswert halten oder der andere einfach zu anstrengend ist. Doch wie bei der Wechselwirkung zwischen Kopf und Herz, gehören zum Ungleichgewicht zwischen Menschen immer zwei dazu. Und ob wir wollen oder nicht, der andere spiegelt immer die eigenen Schwächen. Einfach deswegen, weil Spiegelbilder nun mal spiegelverkehrt sind. Habe ich recht, hast du es nicht. Denke ich in Schwarz tust du es in Weiß. Stehe ich rechts, stehst du links. 

 

Dabei sollten wir nicht vergessen, dass wir auch eine rechte und linke Gehirnhälfte haben und erst beide zusammen unser Gehirn ergeben. Und genau wie die Logik nicht ohne Vernunft funktioniert, scheitert auch Liebe ohne Glück. Erst die Verbindung zwischen beiden erschafft Lebensfreude und erweitert das Bewusstsein vielmehr als es bewusstseinserweiternde Drogen je könnten. 

Doch dazu ist eins nötig. Die völlige Akzeptanz und Freude darüber, dass der andere existiert. Und dabei haben wir gelernt, die Fehler beim anderen zu suchen. Das eigene Unverständnis in der Ignoranz der anderen zu finden. Den anderen für die eigenen Ängste verantwortlich zu machen. 

 

Doch wer zurücktritt, nachgibt, und so Raum zwischen den Fronten schafft, der kann etwas über sich selbst lernen und den anderen verstehen. Das sorgt für Ausgleich und, naja, wer hätte es vermutet,

Liebe.